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Freitag, 18. November 2011
Netzmuseum
Mittwoch, 9. November 2011
"Deep End"
Was mich an den Film und der Dokumentation "Starting Out: The Making of Deep End" von Robert Fischer recht erstaunt hat (und was ich zuvor noch nicht wußte): wie sehr "Deep End" als Ur-UK-Thema des Post-Swinging-London eine Münchener Produktion bei der Bavaria und in Settings von München war, was man auch an der Präsenz von Karl-Michael Vogler und Dieter Eppler als Schauspieler erkennen kann. Die 35-mm-Handkamera von Charlie Steinberger in der Prä-Steadycam-Ära ist als "Film-Tanz" wirklich auch heute noch sensationell.
Obwohl die Musik von Cat Stevens ("Harald & Maude") und CAN den zeithistorischen Kontext geschmacklich ziemlich einzugrenzen scheinen, ist Skolimowski und seinem Editor Recht zu geben, wie "frisch" der Film auch heute noch geblieben ist und wie sich die Fragen von "Freizügigkeit" verschoben haben: Während John Moulder-Brown sich 1970 noch seine Genitalien mit Gaffatape zukleben musste, damit kein evt. sichtbarer "Nippel" zu Schnittauflagen der UK-Zensoren führen hätte können, durfte die Lehrerfigur, gespielt von Vogler, eifrig die Hinterteile seiner Schülerinnen im Schwimmbad tätscheln, etwas, wie David Thomson in seinem Essay der BFI-Edition sehr richtig bemerkt, heute keiner mehr sich trauen würde, so zu drehen.
Die dargestellte Mischung der Explositivität von erwachender Triebhaftigkeit bei Adoleszenten mit den Übergriffen der Erwachsenenwelt in diese jugendliche Explosivität hinein als "Exploit" und "Verlockung" (inkl. des Umdrehens, nach Belieben, als Vorwurf des "Molesting" gegenüber Tätern und der Staatsmacht) ist nach den Vorkommnissen an Odenwaldschule und Canisius-Kolleg aktuell wie nie. Im Jahr 1970 war dies zu thematisieren eine tektonisch-dynamische Welle zwischen Aufbruch der 1960er-Jahre und Etablierung von Freizügigkeit in den den 1970ern. Heute kann es als Mahnung dienen, dass vier Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse im Kontext einfach anders waren und nicht mehr durch heutiges "sittliches Empfinden" ohne Weiteres verständlich sind, so verstanden werden können, wenn etwa einige von Mapplethorpes Fotografien (aus vielen nachvollziehbar guten Gründen, möglicherweise) bei heutigen Ausstellungen nicht mehr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
"Deep End" erscheint mir daher äußerst sehenswert, auch weil er wieder zeigt, dass ein retouchierter 2K-Interpositiv-Scan nicht mehr das zeigt, was der beigefügte Werbe-Trailer, von gebrauchter Kino-Positivkopie abgenommen, noch erahnen lässt: wie man den Film einst im Kino gesehen hat (in Format, Gradation, Tonalität etc.). Heute können wir alte Filme so gut sehen, wie man sie zuvor noch nie gesehen hat; es wird ein ganz anderer Film, möglichweise mit intensiverer, immersiverer Erfahrung.
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