Freitag, 1. Mai 2009

1959: Eine Reise zum Gravitations-Mittelpunkt des Kinos


von Joachim Polzer


I. Die Schwerkraft an sich


Die Gravitation gilt als eine der vier Grundkräfte der Physik; sie dominiert die großräumigen Strukturen des Universums. Gravitation ist zwar die schwächste aller vier physikalischen Wechselwirkungen und Grundkräfte, besitzt aber unendliche Reichweite und ist nicht abschirmbar. Gravitation wirkt daher grundsätzlich und immer anziehend. Die Schwerkraft wirkt bei der gegenseitigen Anziehung von Massen. Der freie Fall durch Schwere zielt auf das Massezentrum. Ist der freie Fall zum Gravitations-Mittelpunkt durch Materie behindert, begibt man besser auf eine Reise dorthin. Sinnvoll können aber auch Umlaufbahnen oder Orbits um einen Massekörper sein, denn dort heben sich die Gravitationskraft und die Zentrifugalkraft gegenseitig auf. Deshalb herrscht an Bord eines Raumfahrzeuges, welches sich in einer Umlaufbahn um die Erde befindet, Schwerelosigkeit. Als Umlaufbahn wird die Bahnkurve bezeichnet, auf der sich ein Objekt periodisch um ein anderes (massereicheres, zentrales) Objekt bewegt. Im Orbit befinden sich beispielsweise planetare Monde, Planeten um Sonnen oder Raumfähren im Satellitenorbit. Der Orbit ist energetisch ein günstiger Ort, um durch Fliehkraft zusätzliche Beschleunigung aufzunehmen. Damit werden weite Reisen möglich.


II. Ätherische Verdichtungen der Weltlage

Der Sputnik-Schock vom Oktober 1957 saß tief für die westliche Welt im Kalten Krieg. Nachdem 1954 bis 1956 die USA mit der Wasserstoffbombe gegenüber der SU wieder Gleichstand erzielten und 1958 in den USA zudem die Neutronenbombe entwickelt worden war, gab die Raumfahrt der allgemeinen Bedrohungslage für eine Welt im Schisma eine gänzlich neue Dimension. Der Wettlauf der beiden großen Teilsysteme in den Weltraum war eröffnet. Die USA besaßen daher seit 1959 militärische Aufklärungssatelliten und seit 1960 Wetter-, Navigations- und Frühwarnsatelliten. Am 12. April 1961 dann der zweite Schock für den Westen: Ein erster bemannter Weltraumflug der SU startet mit Juri Gagarin. Das führte nun am 25. Mai 1961, nur eineinhalb Monate nach dem Start von Juri Gagarin, zur berühmten Rede von John F. Kennedy vor dem amerikanischen Kongress, in der er das Ziel vorgab, noch im gleichen Jahrzehnt einen Menschen zum Mond und wieder zurückbringen zu lassen.

Die gesamte Hysterie des Kalten Krieges zum Weltraum fand in einem "Setting" einer sehr bodenständigen Welt statt: Am 13. Februar 1959 siegen die Kuba- Revolutionäre über das Batista-Regime und Fidel Castro übernimmt das Amt des Regierungschefs. Kuba wird damit alsbald zum realen Schauplatz für Großmachtinteressen, während sich in Tibet die Aussichten eines geistig geführten Kleinstaats verfinstern: Der 14. Dalai Lama flieht noch im März 1959 ins indische Exil. Gleichzeitig bereiten sich Batterien von afrikanischen Kolonien europäischer Mächte auf ihre staatliche Souveränität vor, die 1960/1961 vollzogen werden wird. Eine Welt im Umbruch und in ständiger Alarmbereitschaft. Es dauert nicht lange, bevor der Kalte Krieg heiß zu werden droht: Am 17. April 1961 die Invasion US-amerikanischer Truppen in der Schweinebucht von Kuba und am 13. August der Baubeginn der Berliner Mauer. Das Weltschisma wird Beton und Stacheldraht. Die Welt scheint am Vorabend ihres nuklearen Armageddon zu stehen: Am 25. Oktober 1961 fahren sowjetische und amerikanische Panzer am Berliner Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße auf, nachdem DDR-Grenzsoldaten Westalliierte daran hinderten, den sowjetischen Sektor zu betreten. Die Lage wird noch heißer als — ein Jahr später — vom 14. bis 28. Oktober 1962 bei der Kubakrise die roten Knöpfe auf beiden Seiten bereits freigeschaltet sind. Am 22. November 1963 stirbt John F. Kennedy; sein Nachfolger Lyndon B. Johnson heizt den Vietnam-Krieg an.


III. "Man muß sich in Hiroshima nicht dafür entschuldigen, dass man einen Film über den Frieden dreht."

In diesem Klima von Angst und Bedrohung fanden vom 30. April bis 15. Mai 1959 in Cannes die 12. Internationalen Filmfestivalspiele statt. Dort gibt der damals 27-jährige François Truffaut mit seinem ersten Langfilm "Sie küßten und sie schlugen ihn" (Les Quatre Cents Coups) den Startschuss zu dem, was man wenig später bereits die Nouvelle Vague nennen wird; Truffaut gewann der Regiepreis des Festivals. 400 Streiche hatte auch die Festivalleitung von Cannes nötig, um erwachsen zu werden: "Hiroshima, mon amour" war zwar Teil des offiziellen Festival-Programms, aber Hiroshima Mon Amour von Alain Resnais wurde vom Wettbewerb in Cannes ausgeschlossen, weil man befürchtete, die US-amerikanische Regierung möglicherweise zu verärgern oder zu provozieren. Über Atombomben und ihre Wirkungen zu sprechen — oder diese gar zu zeigen oder als Folie für einen Unterhaltungsfilm nutzen zu wollen — galt als Tabu: ein No Go Area. So geht die Goldene Palme dieses Jahrgangs an "Orfeu Negro" von Marcel Camus und der große Preis der Jury an "Stars" des DDR-Regisseurs Konrad Wolf.

Trotzdem ist diese öffentliche Welturaufführung von Hiroshima Mon Amour in der ersten Maihälfte 1959 eine Sensation. So etwas hat man auf einer Kinoleinwand noch nie zuvor gesehen, in einem Lichtspieltheater zuvor noch nie so etwas gehört. Hiroshima Mon Amour tritt als bahnbrechende Innovation mit einer beispiellosen Erstmaligkeit und Originalität ans Tageslicht des Kinos, schiebt sich und damit auch das Genre des abendfüllenden Essayfilms, das der Film zudem auch noch mit sich selbst begründet, ins Zentrum der Kinogalaxie; mit seinem Ideenreichtum und seiner Verweigerungshaltung gegenüber kinematographischen Bezugnahmen auf bereits Gewesenes und So-Gewordenes und überhaupt mit einer Verweigerungshaltung gegenüber der gesamten kinogeschichtlichen Tradition. Die Welt des Kinos war eine andere geworden nach Hiroshima Mon Amour.

Dass Eric Rohmer dieses neue Gravitationszentrum der Kinematographie als solches sofort erkannt und verstanden hatte, zeigen seine überlieferten Einschätzungen in einer dem Resnais-Film gewidmeten Diskussionsrunde der Redakteure bei Cahiers du Cinéma, wonach man "in einigen Jahren, in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren wissen werde, ob Horishima Mon Amour der wichtigste Film seit dem Zweiten Weltkrieg war, das erste moderne Werk des Tonfilms".

Die Geschichte selbst, in ihrem linearen Zeitlauf, ist das Thema des Films, gerade dann, wenn der Filmtext von Marguerite Duras und die Filmtextur von Resnais die Zeitebenen der Vergangenheit und der Gegenwart so miteinander verweben, dass eine starke Vorahnung des Kommenden und Künftigen ständig mitschwingt. Der Film ahnt und weiß und zeigt, was der Welt in den nächsten 36 Monaten, in den nächsten 36 Jahren zugemutet werden wird. Hiroshima Mon Amour ist darin gelebte Gegenwart. Es muss bei dieser Anordnung zwingend beim Versuch, beim Essayistischen bleiben, wenn die eigene Lage in der Raumzeit der Wirklichkeit, in der traumhaften Raumzeit des Kinos exakt bestimmen werden soll — und sich so aus dem linearen Kontinuum als einem Konstrukt befreien will. Das macht die Kraft und Wucht dieses Kunstwerks als virtuellem, in einem in Raum und Zeit nicht lokalisierbaren Gravitationszentrum-Punktes im Kinouniversums aus.

Mehr als die 30 von Rohmer geforderen Jahre nach dem Erstimpakt von Hiroshima Mon Amour beschäftigen sich der Filmpublizisten Kent Jones intensiver mit der Bedeutung des Werks für uns heute: am 24. Juni 2003 erschien sein Text online aus Anlass der DVD-Veröffentlichung bei Criterion. Eine weitere aktuelle Auseinandersetzung zu HMA und eine zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk von Resnais findet sich bei Emma Wilson (Manchester, 2006).

Jones Veröffentlichungszeitpunkt im Jahr 2003 ist aufgrund einer weiteren zeitlichen Symmetrieachse bemerkenswert: 30 Jahre Rohmers Maximalabstand zur EA plus nochmals 14 Jahre, die der Film einst selbst benötigte, um aus seinem Stoff seine Raum-Zeitgeschichte gebären zu können im zeitgeschichtlichen Kontakt der Realzeit. Jones stimmt dabei Rohmer inhaltlich zu, wonach Hiroshima Mon Amour der erste moderen Tonfilm in jedem Aspekt seiner Konzeption und Ausführung sein kann: in seiner Konstruktion, seinem Rhythmus, seinen Dialogen, seinem Darstellungsstil, seiner philosophischen Haltung und sogar in seiner Musikdramaturgie.

Dabei verweist Jones auf eine grundlegende Schwierigkeit für uns heute, wenn wir uns unbedarft und gleichsam naiv dem Werk als Meilenstein der Filmgeschichte nähern wollen. Denn auch dies ist eine Frage und Folge einer Überwindung von Schwerkraft: Während "Atemlos" (À bout de souffle) ein Jahr später gleichsam leichtfüßig und spontan wie Freejazz uns auch heute noch einzufangen in der Lage ist, ächzt Hiroshima Mon Amour dann unter seiner Bedächtigkeit, seiner Konstruktionsabsicht und seiner entschieden auftretenden Ersthaftigkeit, wenn das Kunstwerk Zwecken dienen soll, die außerhalb seiner selbst stehen. Den bewegten Gutmenschen junger Generationen sei es daher gleich gesagt: Der Film ist absolut untauglich für die No-Nukes-Bewegung, denn das Filmthema setzt sich in die andere Nukleussprengung ab: Ehebruch und Schlüpfer sind die Schlagworte des Film-Jahres 1959. Hiroshima Mon Amour macht darin keine Ausnahme und überhöht das Thema zugleich um den sehr modernen Globalisierungs-Aspekt von "mixed-ethnic couples".

Es ist am Besten, man lässt Hiroshima Mon Amour quasi nebenbei "laufen" und beobachtet wissend und neutral, ob und wie diese Filmpoetik Unbedarfte unerwartet gefangen nimmt. Ein Blindversuch als bester Beweis für Schwerkraft im übrigen. Mir ist das vor Kurzem bei einem Versionenvergleich von Videofassungen höchstselbst passiert (HMA war im Frühjahr 1975 einer der ersten Spielfilme, die in der BRD auf Videodisc herausgebracht wurden), als ich Hiroshima Mon Amour gleich fünf Mal hintereinander als "Erstkontakt" technisch sehen musste und damit gleichzeitig emotional erleben durfte, gefangen genommen, überwältigt wurde. Probieren Sie es einfach einmal im Selbstversuch.

Jones verweist auf dem Umstand, dass Hiroshima Mon Amour deshalb der wahrscheinlich einflußreichste Film der Filmgeschichte sei, weil er die Filmemacher bei ihren Narrationen von der linearen Konstruktionspflicht befreit hat. Während "Citizen Kane" die Chronologie nur darin aufbrechen kann, indem er den Fluß der Zeit umkehrt, zerschlägt Renais die Zeit in Fragmente der Erinnerung an die Zukunft.

Darüber hinaus verweist Jones auf einen weiteren, wichtigen Aspekt, der weniger leicht und offensichtlich zu entdecken ist: Während Godard auf dem Fußspuren von Rossellini einen Neo-Neorealismus dahingehend kreierte, indem der Fiktionsraum und der Realitätsraum sich vermischen dürfen, Filmzeit und Realzeit sich in Mischungserhältnissen einander annähern können, sieht Jones Resnais eher bei Eisenstein, indem eine komplexe, extrem präzise fiktionale Konstruktion errichtet wird, in die hinein dokumentarische Versatzstücke ihre Fremdheit und bedrohliche Neutralität behalten dürfen. Also keine Vermischung eines ausprobierenden 'Anything-Goes', sondern eine ins Extrem kalkulierte Kernschmelze, in der die Materialität des Kinos auf atomarer Ebene (Profiktionen und Edoktronen) sich in reine Energie verwandelt. Der kleine Unterschied zu Eisenstein ist nun der, dass Resnais ein Meister des Tonfilms ist, bei dem sich die Schnitt-Montage in eine poetische Musikalität der Sprache des Dialogs und der komplexen Sprache einer Filmdramaturgie unallegorisch, ohne Begrifflichkeit der eingesetzten Mittel, einzubetten und einzufügen hat. Resnais Suche nach Autoren mit einer entschieden musikalischen Sprache hat ihn zur zuvor filmunerfahrenen Marguerite Duras geführt, was Jones zum Vergleich verleitet, wonach Resnais nicht so sehr sein eigener Autoren-Autor im emphatischen Sinne des Begriffs, sondern vielmehr eine Art filmisch-dirigierender Piere Boulez des Kinos sei, der unsere Sinne auf die Einsichten und Töne der Moderne einzustimmen und zu lenken in der Lage ist.

Diese Energieform redet nun in einer musikalischen Artikulation der Sprache. Man kann es Poetik nennen; mit Worten und Aphorismen, wie vom Steinmetz in die Ewigkeit gemeisselt, mit Antworten auf die Frage, welche Auswirkungen der Fluss der erlebten Zeit auf unser Gedächtnis und auf unsere Erinnerungsfähigkeit nimmt, auch auf die Fähigkeit zum Vergessen — und umgekehrt. Es ist in dieser Welt einer Zeitfreiheit und der Bewegung hin zur Befreiung vom Raum dabei stets sehr schwierig, das 'Hinten' vom 'Vorne', das 'Gestern' vom 'Morgen' zu unterscheiden.

Das Beben, dass der Zweite Weltkrieg als zeitlich-topologische Zäsur über die Welt und die Menschen gebracht hat, hallt hier in verstörter und verstörender Wirkung weiter nach, in einer — wie Jones es nennt — größtmöglichen Zartheit und größtmöglichen emotionalen und körperlichen Präzision. Das hallende Nachbeben nach 14 Jahren Abstand, kurz bevor das unmittelbar erlebte in die Zeitgeschichte und schließlich in die Historie absackt.

Die betörende Überwältigung als 'Leitmotif' des gesamten Films endet auch in sprachlichen Musikalität des Schlussmonologs nicht, wenn die prognostische Warnung sich begreift, dass alles wieder von Vorne beginnen und sich alles wiederholen werden wird. Eine Achtsamkeit, die uns in unserer heutigen Unachtsamkeit und Unübersichtlichkeit mehr zu sagen hat als jemals zuvor. Der Gavitationsmittelpunkt des Kinouniversums ist ein Moment des Verstehens, mit einer extrem scharfen, ultra-präzisen und sonnengleich luziden Exaktheit.


IV. Der Eisenkern des Kinos

Die Formel, nach der man Materie mit Engerie als Transformationsprozess gleichsetzen kann, um daran quasi als Extender auch menschliche Beziehungen mit zur Wandlung zu zwingen, in einem von der zeitlichen Linearität und der räumlichen Voraussetzungshaftigkeit befreiten Kinoraum als Versuchsanordnung, das macht den Charakter einer Schwerwiegenheit des vorliegenden und behandelten Falls aus. Dieses Schwerkraftzentrum des Kinos, das in einer Rückwandelbarkeit von Leben in Energie zu Materie im Zeitpunkt äußerster Bedrohung besteht, ist selbst jedoch federleicht, eine Federgewicht aus Klangsprache.

Es oblag nun zwei weiteren Werken der Kinogeschichte im Schicksalsjahr 1959, diesen Federkern mit einen Eisenmantel zu umhüllen, der durch die Drehbewegung der Kameras und Projektoren zu für Magnetismus typischen Phänomenen führte. Die beiden Film-Pole lassen sich nicht trennen und bleiben bei größtmöglicher Distanz zueinander als Di-Pol stets aufeinander bezogen, in jeder Faser ihrer Genealogie nach Innen und ihrer Wirkkraft nach Außen.

Die Regisseure beider Eisenkern-Filmwerke stammen aus einem ehemals deutschsprachigen Kulturraum und zwar — auch darin ein Di-Pol — in größtmöglicher West-Ost-Ausdehnung. Der eine Regisseur wurde 1902 im elsässischen Mühlhausen, der andere 1905 in Galizien geboren, beide in ein neues, junges und frisches, elektrifiziertes und vielversprechendes Jahrhundert, in jenes Jahrhundert, das — wie sich später herausstellen sollte — den USA als Hegemonialmacht gehören und das daher auch zum Jahrhundert ihres erzählerischen Filmkinos als vorrangiges Mittel der Selbstreflektion wie auch der propagandistisch-weltweiten Selbstdarstellung werden sollte.

Dies wird auch erkennbar an dem Umstand, dass beide Regisseure jüdischer Abstammung von Headhuntern und Talentscouts ihrer Zeit in die boomende, aufsteigende Kinowelthauptstadt Los Angeles gelockt wurden. Bei ersten Regisseur half 'Vitamin-B' einer entfernten Verwandtschaft zu dem Carl Laemmle der Universal-Studios weiter; der Bedarf zu Anfang der 1920er Jahre war für die im explosionsartig im Entstehen begriffene Filmindustrie der USA enorm, so dass auch unbefleckte und blutjunge Nachwuchs-Twens gierig angezogen wurde, wie man es zuletzt in den 1990ern im Silicon Valley bei der IT-Netzwelt gesehen hatte. Das andere Kaliber konnte in Wien bereits beweisen, was für die Bühne und das Kino in ihm steckt; er ging beim besten Meister seiner Zeit in die Lehre, so dass der im Auftrag von Zanuck entsandte Headhunter des neu gebildeten Studios '20th Century Fox' mit guten Argumenten im Jahr 1935 nicht mehr viel nachhelfen mußte, einen der Besten und Talentiertesten aus dem polyglotten Zentrum Europas für die Filmwirtschaft der USA zu akquirieren, auch wenn der Betreffende später großzügig behaupten wird, dass ihm noch 1935 ein Hitler nie imponiert geschweige denn Angst zur Flucht gemacht hätte.

Bei ersten dieser beiden Eisenkern-Dipol-Film des Jahres 1959 drängt alles in die farbige Weite; beim zweiten Werk verdichtet sich monochrom das Geschehen in die Tiefe des Raums. Der Familienname des einen Regisseurs trägt das "am Wasser gebaute" als durchgängig symbolsprachliches Metaphern-Topos des betreffenden Werks bereits in sich; entsprechend findet sich das Pre-Miumhafte, Pre-Emptive und Pre-Eminente bei der Auswahl von Stoffen, Stars und zu brechenden Tabus gesellschaftlicher Konventionen ebenfalls im Familiennamen des zweiten Regisseurs. Nomen est Omen.

Auch bei den Schauplätzen herrscht bipolarer Gegenbezug: Während der erste Film in WashtingtRom sein geotopologisches Zentrum setzt, begnügt sich der zweite Film mit Settings in MichigAthen in kleinräumigen Maßstäben. Realismus erzeugt MichigAthen im gezielten Aufsuchen möglichst authentischer Filmräume der handelnden Akteure, während WashingtRom artifiziell in römischen Studios nachgebaut wird. Der Produktionszeitraum des Mammutwerks waren rund vier Jahre; beim Quickie waren es gerade einmal vier Monate von Drehbeginn bis zum Kinostart.

Beide Filmwerke antworten dabei auf den McCarthy-Terror unmittelbar vorausgegangener Jahre; allerdings ist die Reaktion dabei wieder bipolar diametral: Während der zweite Film den wirklichen Richter Joseph N. Welch, der zuvor tatsächlich in einem McCarthy-Kongress-Untersuchungsausschuss Unbestechlichkeit bewiesen hat, zum Filmrichter eines Mordprozesses um einen Vergewaltiger-Rachemord befördert, geht es beim ersten Filmwerk allem behaupteten "Unpolitischen" zum Trotz, bei dem man in Sachen politischer Korrektheit ja vermutlich nichts mehr falsch machen kann, nicht nur um die Verhandlung von pietätvoller Mörder-Unterhaltungsware. Es geht um mehr.

Der Erfolg von 'Ben Hur' als Roman, Bühnenfestspiel und bislang dreifache Verfilmung lässt sich über acht Jahrzehnte von 1880 bis 1960 aus seiner Effektmischung von Aktion-Spektakel, Melodram plus Frömmigkeit nicht alleine herleiten. Hier scheint ein grundlegend nordamerikanisches Bewußtsein durchgearbeitet und im Durchkneten geschärft wie legitimiert zu werden. Dieses hat in der weiterhin gültigen aber erklärungsbedürftigen Doppelvalenz jüdischer und christlicher Identität in den Kulturen der US-Gesellschaft seinen Grund.

Nächstenliebe, Vergebung, Enthaltsamkeit und Friedfertigkeit als Grundpfeiler christlichen Glaubens gemäß dem mythologischen Archetypus "Fische" passen so gar nicht in die virile Atmosphäre tatkräftig 'Zahn um Zahn, Auge um Auge' sühnenden Cowboytums auf der als gültig angenommenen Skala des 'Römischen Reiches amerikanischer Nationen' gemäß dem mythologischen Archetypus des "Schützen". Bei 'Ben Hur' wird die Konversion von Juden zum Christentum vorgeführt unter Beibehaltung jüdischer Virilitätsbewußtseins. Christ sein in den USA geht nur unter Beibehaltung seiner jüdischen Wurzeln und ebensolcher Idendität. 'Ben Hur' ist darin ein Präsens- und Potenzmittel gleichermaßen zur Einübung eines jüdisch-christlichen Mehrvalenzcharakters sittlicher Übereinkünfte in Gesellschaft und Politik. Die Identifikation mit dem Aggressor — in diesem Falle: Rom — ist dafür als Katalysator nun besonders hilfreich, wenn man es in Washington mit dem historischen Rom aufnehmen möchte, das nicht nur besetzte Provinzen behalten, sondern sich gegebenenfalls gegen barbarische Aggressoren zu verteidigen in der Lage sein kann und dabei gleichzeitig seine Zivilisation über den gesamten Horizont seiner Zeit expansiv ausdehnen gewillt ist.

WashtingtRom ist eine damals unabwendbare Größe, die dieser Film feiert, in dem er sie als unmenschlich kritisiert. Das Lehrstück dieses Films liegt dabei in der Frage, wie der Einzelne, das Individuum, in fatalen Zeiten ständiger Kriegsgefahr durch Eroberungsabsicht und äußerer Bedrohung mit dieser realen Umgebung umgehen soll, welche Haltung hier einzunehmen und system-stablisierend anempfohlen wird: Jüdische Identität kann die christliche Konversion durch ihre kulturelle Integration überleben. Wenn man an sich glaubt, statt an den Glauben, wenn man also nur fest genug an den Glauben glaubt statt den Glauben in seinem spirituellen Substrat selbst zu verlebendigen, dann kann man alles erreichen, mit christlicher Vergebung (die allzu leicht zur Vergesslichkeit wird) aber auch mit jüdisch zupackender Vergeltungskraft. 'Ben Hur' ist seit 1880 eine Feier dieser Synthese.

Demgegenüber vertreibt sich Paul Biegler alas Jimmy Steward in "Anatomy Of A Murder' als Provinzanwalt und ehemaliger Bezirksstaatsanwalt in einer Kleinstaat-Struktur athenischer Dimension beim sportlichen Ausgleich zu seinem Verteidigerjob eines Vergewaltiger-Mörder-Falls seine Zeit mit — Fischen. Ein protestantisch-pragmatisch die Wahrheit suchender Hobby-Piscator also, jemand der nicht im Trüben fischt, sondern seine Scherflein-Fische fängt, sie messerscharf auf den Punkt seziert, aber eben auch manchmal selbst am eigenen Haken hängt, wie die cinematische Geschichte zu beweisen versucht. Das wird dann ruchbar, wenn Biegler seinen Mitarbeiterstab mit möglicherweise erwirtschafteten Anwaltshonoraren vertragsehrlich entlohnen möchte und er bei diesem vergeblichen Unterfangen auch noch über den Wahrheitsanspruch eigener Überzeugungen in seinem Mandat großzügig hinwegzusehen hat.

Preminger präsentiert uns hier die Karikatur einer calvinistisch-lutheranen Sekulargesellschaft, die beim Spiel von Gesetzes-Recht und Gerechtigkeit den auseinander driftenden Dualismus von Wissen und Glauben nur mit groben Winkelzügen bändigen kann. Und dies passiert eben dann, wenn der Dipol des "Wir können nur Glauben, was wir wissen können, weil wir nur Wissen, was wir zuvor schon geglaubt haben" sich bereits aufgelöst hat und so zu einer Gesellschaft in Auflösung führt. Darin ist Preminger im Gegensatz zu Wyler mit seinem skeptisch-kritischen Blick geradezu prophetisch; er schuf damit das größere Kunstwerk. Es handelt sich in der Darstellung dabei um eine Art Auflösung, die wir nun — ziemlich exakt 50 Jahre später — aus nächster Nähe praktisch erkunden können.

Judah Ben Hur und Paul Biegler vereint, dass sie beide nicht sonderlich intensiv auf der Suche nach Frauen sind, allerdings wiederum aus grundsätzlich unterschiedlichen Gründen — und auch eher von Frauen gefunden werden — aber wie!

Ben Hur sucht ständig nach Vaterfiguren, die ihm den Gewissenskonflikt die Legitimität seiner Konvertierungsabsicht plausibel zu machen in der Lage sind und die er in der Bewahrungsabsicht seiner Identität nicht mit unkeuschen Frauengeschichten aufs Spiel setzen möchte. Dieser Aspekt erscheint mir viel wesentlicher für die inhärente Bedeutung des Werks als die wilde Vidalsche Spekulation, was Ben Hur und Messala miteinander getrieben haben, als sie zehn Jahre jünger und noch etwas "Schwärmerischer" waren.

Paul Biegler hört und spielt hingeben lieber 'Neger-Jazz' und hat ein recht freundschaftlich-kumpelhaftes — man könnte auch sagen: platonisches — Verhältnis zu seiner Sekretärin und wohl auch zu anderen Frauen. Das Vergewaltigungs-Opfer, Laura Manion, gespielt von der superheißen Lee Remick, die, in David Thomsons Urteil, "sogar mir einem Feuerhydranten flirten würde", kann im Falle Paul Biegler bedauerlicherweise für sich selbst nur wenig bewegen, auch wenn Biegler ein Top-Player auf dem Tennisplatz der Gerichtsbarkeit ist. Denn Biegler angelt nur, nimmt gern aus, isst selbst aber keine Fische, die sich als "cold fish" im Kühlschrank dann lagernd stapeln.

Während 'Ben Hur' eine Selbstrechtfertigung des noch nicht ganz christlich durchgegarten und in diesem Zustand möglichst verweilen sollenden US-amerikanischen Volkscharakters betreibt, wird in "Anatomy Of A Murder" eine der vier Grundsäulen der westlichen Zivilisation behandelt: die Frage von Recht und Gerechtigkeit. Die anderen drei Grundsäulen behandelte Otto Preminger in weiteren, späteren Versuchsanordnungen: Institutionelle Religion und Hierarchismus in 'The Cardinal', Nationalismus, Staatsgründung und Zionismus in 'Exodus' sowie die Abkopplung der repräsentativen Demokratie von ihren Zwecken in 'Advise and Consent'. Premingers Wagemut in zögerlich aufbrechenden Zeiten am Ende der 1950er-Jahre tabu-belegte No-Way Themen ins grelle, gleißende Licht der Öffentlichkeit zu zerren, reichte thematisch von Heroinsucht bis zu Senatoren mit schwärmerischer Vergangenheit in einer Zeit, als man einem noch gemeinsam versammelten Kinopublikum das Vorhandensein von Subkulturen und derivativem Verhalten erst einmal an sich erklären musste.

Detailberichte von Vergewaltigungen, zu Spermaspuren, über Arten von Geschlechtsverkehr, Verhütungsmittel und die Schlüpfrigkeit von Schlüpfern zu einem anatomischen Dauerthema eines 160 Minuten langen Court Room Dramas zu machen, zeugen als im Kinoraum zuvor Ungehörtes ebenfalls von einem zupackenden Temperament, von einem fortschrittlichen Geist seiner Zeit und von einem den Überblick über Zeitläufe und gesellschaftliche Kontexte behaltenden Autorenkönner. Wohl dem, der als Geschichtenerzähler noch gesellschaftliche Tabus überhaupt brechen kann und daran seinen guten Geschmack zu schärfen in der Lage ist. Rund zwei Dekaden später sind die Tabus keine mehr und guter Geschmack wird zur gesuchten Mangelware.

Demgegenüber galt der am Wasser-Weiler gebaute William Wyler als pingeliger und genauer Diener seiner Stoffsache, der sich und den Studiostars die zu lösende Aufgabe gut und gediegen vermitteln konnte, fleißig seine Projekte ablieferte. Elf Academy Award Oscars waren der Lohn dieses mehr als gigantischen Wiederverfilmungs-Aufwandes. David Thomson deutet diesen Auszeichnungserfolg bei 'Ben Hur' als Versuch einer Standardsetzung durch die US-amerikanische Filmindustrie: so vorbildlich sollten amerikanische Filme ab jetzt stets sein. Als gerechte Strafe wertet Thomson nun den Umstand, dass 'Ben Hur' heute als nicht mehr präsentabel und genießbar gilt, auch wenn die erstmalige Verwendung des Camera-65-Verfahrens ihm einen Ehrenplatz in der technischen Filmgeschichte sichern wird und der Film neuerdings auf allerorten aufsprießenden 70-mm-Festivals wieder herumgereicht wird.

Allerdings ist es keine Kinoreprise gewesen, die den Ben-Hur-Diskurs erneuert und aktualisiert hat. Wie auch bei 'Hiroshima Mon Amour' war es eine Neuedition auf Silberscheibe, die im Mai 2006 zu einem rund 20 Seiten langen Text von Gordon Thomas im Bright Light Films Online-Journal mit einer zeitgemäßen Neueinschätzung im Wissensstand von heute führte, die ich für sehr lesenswert erachte.

Wenn es bei 'Ben Hur' eine Kunstfertigkeit mit Substanz gibt, dann die der Filmmusik von Miklos Rozsa mit einer Eigenständigkeit und künstlerischen Qualität, die den 'trocken, gewunden und gezogen' inszenierten Film (Thomson) gleich um mehrere Etagen des Circus Maximum überragt. Gordon Thomas bewertet den Rozsa-Score als "Reisemusik für die Seele". Da benötigt man dann keine dürstenden Wasserbilder oder Wassermetaphern mehr; die wirkt direkt in ihrer sehr komplex konzipierten und mehrschichtig angelegten Leitmotivtechnik. Im musikalischen Paralleluniversum allerdings konkurriert sie mit der Jazz-Musik eines Duke Ellington, die eine neue, heranbrechende Zeit zum klingen und tönen bringt, ob im Off oder im On, mit Duke Ellington hinter oder vor der Kamera. Man kann sagen, dass Rozsas Score 'Ben Hur' als Filmwerk vor dem ständigen Umkippen rettet und zwar auf ganzer Länge, während Ellingtons Jazz aus einem bereits ohne Musik schon perfekten schließlich einen grandiosen Film macht, der dies aus jeder Pore des Ensemblespiels ausdünstet. Beide Filmpole bringen ihre Filmmusik in die Stratosphäre und werden zugleich von ihr mehr als getragen, jedoch in jeweils polar auseinander strebende Richtungen.

Sowohl 'Ben Hur' als auch 'Anatomy Of A Murder' stehen in der Tradition ihrer Genres und bringen dieses jeweils mit sich selbst zu einem Klimax. 'Ben Hur' ist ohne 'The Ten Commandments' und zuvor 'Quo Vadis' genauso undenkbar, wie 'Anatomy Of A Murder' ohne '12 Angry Men' und 'Whitness of the Prosecution'. Der Impakt bei beiden Filmen war so groß, dass das Echo — im ersten Fall — noch bei 'The Bible', 'The Greatest Story Ever Told' und 'The Fall Of The Roman Empire' widerhallt. Der Versuch der Wahrheitsfindung und Gerechtigkeitszuführung, der bei '12 Angry Men' zu einem Grundmodell Verantwortung übernehmender Bürgerpartizipation gerinnt, kehrt sich bei 'Anatomy Of A Murder' ins Gegenteil der Wahrheits-Verdunklung und Exekution von Ungerechtigkeit um, was Schatten bereits wahrnehmbar macht, die WashtingtRom höchst selbst in nicht allzu ferner Zukunft in großem Maßstab verursachen wird. Unter diesem Gesichtspunkt bekommt ein Aufarbeitungsversuch der Gerichtsbearkeit wie in 'The Judgement of Nuremberg' als nächstem, großem Gerichtsfilm einen neuen Beigeschmack der Ambivalenz.

Der bipolare Bezug zwischen 'Ben Hur' und 'Anatomy Of A Murder' setzte sich im Übrigen auch in der Nachwirkung auf die Regisseure fort, denn sowohl Wyler als auch Preminger waren im Dekadenwechsel von 1950ern in die 1960er (wie noch einige andere Regisseure auch, von denen noch zu sprechen sein wird) auf ihrem Karrierehöhepunkt. Während es mit Wyler qualitativ im Filmoutput rapide abwärts ging, fast so als habe er sich mit 'Ben Hur' übernommen, konnte Preminger seinen Zenit mit faszinierenden Charakterstudien der Ambivalenz und mit großem Interesse am Kino als Menschentheater des Konflikts noch für ein paar Jahre auf hohem Niveau halten. Mit fortschreitender Durchdeklinierung all jener Themen des kulturellen und gesellschaftlichen Wandels in den 1960ern, die in den 1950er-Jahren jedoch als Kern, Motiv, Topoi und Thema bereits angelegt und vorgeprägt wurden, verliert schließlich aber auch Preminger zunehmend seinen Biss. In zunehmend unkonformistischen Zeiten verliert die Darstellung von Ambiguität und Ambivalenz des menschlichen Zusammenlebens an Attraktivität.

Die Erkenntnis der direkten Vorprägung und darin Vorwegnahme der 60er- durch die 50er-Jahre haben wir David Halberstam in seinem Standardwerk über "The Fifties" als Buch und als TV-Dokumentation zu verdanken. Gespannt sein darf man also auf Frank Kaplans neues Buch sein mit dem Titel "1959: The Year Everything Changed", das im Juni in den USA und in UK erscheinen wird. Der Klappentext zu Kaplans Buch verrät:

Conventional historical wisdom focuses on the sixties as the era of pivotal change that swept the nation, yet, as Fred Kaplan argues, it was 1959 that ushered in the wave of tremendous cultural, political, and scientific shifts that would play out in the turbulent decades that followed. Pop culture exploded in upheaval with the rise of artists like Jasper Johns, Norman Mailer, Allen Ginsberg, and Miles Davis. Court rulings unshackled previously banned books. Political power broadened with the onset of Civil Rights laws and protests. The sexual and feminist revolutions took their first steps with the birth control pill. America entered the war in Vietnam, and a new style in superpower diplomacy took hold. The invention of the microchip launched the Computer Age, and the Space Race put a new twist on the frontier myth. Drawing fascinating parallels between the country in 1959 and today, exactly 50 years later, Kaplan offers a smart, cogent, and deeply researched new take on a vital, overlooked period in American history.


50 Jahre nach 1959 an die Zeitläufe von 1959 zu erinnern, scheint — wenn man Kaplans Argumentation folgt — also keine journalistische Gedenksendungs-Platitüde, wie bei runden Geburtstagen so üblich, zu sein: "Es liegt was in der Luft." Die Gemeinsamkeit von Bully Buhlan und von Sebastian Haffner vielleicht?



V. Lineare Zeitzirkel auf tektonisch driftenden Platten: 1959 bis 1962

Es läßt sich ein zeitlich linearer Schnittpunkt zwischen dem Beginn des abendfüllenden Spielfilms als in Entstehung befindlicher Kunstsform — kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs — und dem langsam auslaufende Ende des filmstreifen-basierten Kinobetriebs abzirkeln.

Dieser Zirkelschluss einer Verortung der zeitlichen Mitte des Kinos lässt sich als Erfahrungsfeld als die knapp 50 Monate zwischen 1959 und 1962 bestimmen. Man kann sagen, dass dies die große Wendezeit des Kinos ist, die bis Ende 1962, Anfang 1963 noch anhalten wird, bevor im Sommer 1963 mit Verspätung und Misserfolg bei 'Cleopatra' nicht nur bei der Centfox das klassische Studiosystem wie ein morscher Apfelbaum unter der Last der ausgefahrenen Früchte-Last bei Sturm und Wassermangel zusammenbrechen wird. Schon MGM hatte 1959 mit 'Ben Hur' hoch um den eigenen Weiterbestand gepokert — und gewonnen. Die großen Studios sind unter ihren Großproduktioen mit zunehmend fragwürdig werdender Publikumsidentität ökonomisch am Torkeln. Man ächzt nach Veränderung, hat aber noch kaum eine Ahnung, wie und wodurch diese zu bewerkstelligen sein wird.

Ein Generationswechsel bahnt sich an: 1962 ist das Gründungsjahr der Beatles und der Rolling Stones, aber die 1950er hatten bereits Elvis erlebt. In diesem Spannungsverhältnis zwischen dem bereits Angekündigten und dem künftig Unvorhersehbaren, handeln die Schöpfer in diesen 50 Monaten, die nicht nur das Kino veränderten.

Der Apfelbaum des ökonomisch-kulturellen Produktionsmodells war unter den Rahmenbedingungen schon länger morsch geworden, doch die Früchte bringen für vier Seasons nochmals die volle Ernte ein; Äpfel noch gereift im Kraftfeld und Umfeld der vollen Kinosonne auf vielerlei sich gegeneinander bewegenden tektonischer Platten. Selten so süß und so nahrhaft.

Otto Preminger hatte zeitlich vor 'Anatomy Of A Murder' im Jahr 1959 bereits einen weiteren Film vorgelegt: 'Porgy And Bess', bevor seine Erfolgsserie an sozial- und zeitkritischen Stoffen 1960 mit 'Exodus', 1962 mit 'Advise And Consent' und 1963 mit 'The Cardinal' den Kulminationspunkt seiner Berufslaufbahn als Auteur, Produzent und Direktor von Filmvorhaben erreicht.

'The Cardinal' ist dabei insofern bemerkenswert, als der Film einerseits sich als Antithese zur vorausgegangenen Bibelfilmwelle lesen lässt — insbesondere als Antithese zu 'Ben Hur' — und andererseits im Kontext des Zweiten Vaktikanischen Konzils Elementar-Fragen zur weltlichen Verantwortung des christlichen Glaubens in Taten insbesondere während der Nazizeit aufwirft. Preminger war Theatermann genug, um den weltweiten Theaterdonner, den Hochhuths 'Der Stellvertreter' auslöste, in seiner Bedeutung zu erkennen und für sein Filmuniversum ummünzen zu können. Statt dem historischen Rom ist Vatikanstadt der Schauplatz eines diplomatischen Weltfilialisten mit fragwürdiger Hierarchie und noch fragwürdiger Geopolitik. Die messerscharfen Argumente zwischen jüdisch und christlicher Lesart des Glaubens im Dialog münden in die Apotheose einer protestantischen Gesinnungsmoral. Preminger verhandelte hier ur-amerikanische Identitäten und zwar in einer unmittelbaren Direktheit des Konflikts — sogar die seinerzeit aktuellen Rassekonflikte der USA in ihren Südstaaten sind einbezogen. 'To Kill A Mockingbird' reflektierte als Court Room Drama bereits ein Jahr vor 'The Cardinal' den rumorenden und zunehmend aufkochenden Rassenkonflikt im Süden der Nation.

Der andere große Zeitdiagnostiker der 1960er Jahre, John Frankenheimer, übernimmt 1961 — wenn man so will — das sozialkritische Ruder von Preminger und präsentiert nach prägenden Jahren als TV-Regisseur schließlich 1961 die Kinoproduktion 'The Young Savages', bevor er 1962 gleich drei Werke innerhalb von wenigen Monaten im Kino vorlegt: 'The Machurian Candidate', 'Birdman Of Alcatraz' und 'All Fall Down'. Ein sensationeller Start ins Kinos, übertroffen ein Jahr später nochmals durch 'Seven Days in May', eine Art Steigerung der Premingerschen Haltung zur US-Politik, bei der die Ambivalenz zur Paranoia sich steigert im getreulichen Abbild realer Weltpolitik da Draußen; ein Sprint zu einem Zeitkino, der bedauerlicherweise durch Hektik und Beschleunigungsfantasien bei Frankenheimer wenig später viel zu früh enden wird.

Der zeithistorische Abstand zum Ende der Wirren des Zweiten Weltkriegs und der Deutschen Katastrophe erreicht 1959 die Marke von 14 Jahren; 1963 sind es 18 Jahre. Obwohl Zanucks Produktion von 'The Longest Day' 1962 ein großer finanzieller Erfolg für die Centfox wurde, führt er im Weiter-Wetten auf Riesenproduktionen wie bei 'Cleopatra' (1963) letztlich zum mehr oder weniger abrupten Ende des Studiossystems als Produktionsform des Kinos auch bei der "20th Century Fox". Die von Zanuck mit 'The Longest Day' betriebene Vergegenwärtigung von Zweitem Weltkrieg, Holocaust und Nationalsozialismus war im Zeitraum von 1959 bis 1962 für das Popularkino kein Singulär: George Stevens ist 1960 im Oscar-Rennen für den Jahrgang 1959 mit 'The Diary of Anne Frank', gleichfalls Stanley Kramer mit 'Judgement at Nuremberg' zwei Jahre später, wie auch J. Lee Thompson mit 'Guns of Navarone'. Der Zweite Weltkrieg taugt 1960 beim domestic topic 'Ocean's Eleven' in der Regie von Lewis Milestone noch als Motivationsfolie der Rat Pack, bevor 1962 der 1895 geborene Milestone — der 1930 mit 'All Quiet on the Western Front' seinen Weltruf als Tonfilmregisseur begründete — mit dem Remake der 'Mutiny On The Bounty' als Ultra Panavision 70 Produktion seinen letzten Kinofilm vorlegt. Bei einem Budget von rund 19 Million USD erwirtschaftet der Film an der Kinokasse nur knapp 10 Millionen USD; beim Filmstudiobetrieb MGM hat drei Jahre nach der Rettung mit dem Erfolg von 'Ben Hur' das Wetten auf prestigeträchtige, monolithische Gigantoproduktionen ebenfalls ein abruptes Ende gefunden.

Auch die beiden Großmeister von Spannung und Komödie sind auf dem Zenit ihrer Berufslaufbahn angekommen: Hitchcock bereits 1958 mit 'Vertigo', 1959 dann 'North by Northwest' und 1960 schließlich 'Psycho'. Bei 'The Birds' flattert 1963 die Hitchcocksche Dramaturgiemaschine schon als Masche mit mechanischem Knirschen und unter reichlich Marketingöl; aus einem Meisterregisseur ist der "Altmeister des Suspense" geworden.

Billy Wilder sardonischer Witz war selten so prägnant wie in 'Some Like It Hot' (1959), 'The Apartment' (1960) und 'One Two Three' (1961). Bei 'Irma La Duce' spürt man bei allem schlüpfrigen Klamauk bereits einen zunehmend zahnlos werdenden Wilder und damit den langsam beginnenden Abstieg dieses einstigen "Spielbergs früherer Zeiten", als den er sich in späten Jahren gerne bezeichnete. "Racy Talk" führt in zunehmend sich entblössenden Zeiten zu abnehmendem Schauwert. Dass entblössende Zeiten recht schnell auch zu verblödeten Zeiten werden können, und zudem auch relativ leicht eine kulturelle Demenz indizieren lassen, steht auf einem anderen Dialogblatt des großen Kinodrehbuchs.

Das Mankiewicz'sch-Sirksche Melodram kommt mit 'Imitation Of Life' und 'Suddenly, Last Summer' 1959 zu seinem Endpunkt. Der Versuch von Mankiewicz, das Burton-Taylorschen Beziehungsdrama zur Abwechslung ins Gigantische steigern zu wollen, scheiterte 1963 für 'Cleopatra' grandios und beschädigte den Regisseur nachhaltig.

Es bedurfte ein paar Jahre später der Vorhut eines jungen Nachwuchsgregisseurs wie Mike Nichols, aus eben diesem Burton-Taylorschen-Drama mit 'Who's Afraid Of Virgina Wolf' 1966 einen völlig neuen Ton des Realismus zu sythetisieren, der sich allerdings gewaschen hatte. Die Kinowelt war dann 1967 mit Nichols Nachfolgeproduktion 'The Graduate' bereits eine andere geworden.

Zum Personal des Generationswechsels im US-Kino dieser Wendezeit zählte auch Blake Edwards, der wie Frankenheimer vom Fernsehen kam und mit 'Breakfast at Tiffany's' 1961 einen Sensationserfolg hinlegte.

1961 war auch das Jahr von 'The Misfits' und 1962 das Todesjahr von Marilyn Monroe; die Kindfrau als bereits gesetzter Rollentypus für Audrey Hepburn wird nach dem Abgang von Marilyn Monroe zum ergänzenden Antipoden einer Leinwand-Omnipräsenz von Doris Day, die mit 'Pillow Talk' (1959), 'Please Don't East The Dasies' (1960), 'Midnight Lace' (1960), 'Lover Come Back' (1961), 'That Touch of Mink' (1962) ebenfalls die Höhepunkte ihre Karriere als Filmschauspielerin erlebt.

Die amerikanische Frau Saubermann und der Kindfrau-Rollentypus bekommen im Kino allerdings 1959 dahingehend Konkurrenz, dass das Verlangen nach handfestem Sex und seiner realistischen Behandlung, wenn schon noch nicht seiner expliziten Darstellung, im Kino aufkeimt: War "Peyton Place" 1957 noch aufgepeitscht schwülstig, ist 'Summer Place' von Delmer Daves 1959 schon direkter und unverblümter.

Film Noir als Genre geht mit 'Odds Against Tomorrow' als Produktion des noir-erfahrenen Regisseurs Robert Wise 1959 endgültig zu Ende, nachdem Welles 'Touch of Evil' 1958 das "Noir" nochmals ins Grenzgebiet zu Mexiko verpflanzt werden konnte. Für Welles bedeutet dieses "Grenzgebiet" im Jahr 1959 zugleich im schneidenden Konflikt zwischen Innovationskraft und Geldmacht einen traumatischen Abschied im Weiterverlauf seiner Karriere vom Popularkino, nachdem ihm 'Touch of Evil' im Endschnitt aus der Hand geschlagen wurde; Welles wird erst 1962 mit 'Der Prozess' nach Kafka wieder von sich reden machen, dann allerdings schon für ein aufkommendes Art-House-Kinopublikum und vom Kino-Mainstream entfremdet. In dieser Zeit rund um dem Berliner Mauerbau liegt ebenfalls die zeitliche Wurzel auch für das Schisma von Normalbetrieb des Kinos zu Mainstream und Kinokulturhaus; Welles ist einer der ersten, die das am eigenen Leib erfahren werden. Währenddessen wird Wise auf seiner späteren, atemlosen Reise durch viele beliebige Themen und noch beliebigere Genres 1961 'West Side Story' als Verjüngung des Filmmusical-Genres im 70-mm-Format vorlegen.

Der Western als Genre erlebt seine entscheidende Transformation. Von Howard Hawks' 'Rio Bravo' in 1959 bis zur Premiere von 'The Magnificent Seven' im Jahr 1960 sind es nur ein paar Monate. Das Scheitern von John Wayne mit der 70-mm-Produktion 'The Alamo' — ebenfalls 1960 — gibt den Weg frei für 'Neue Männer braucht das Land', zu denen Protagonisten in einer ironischen Brechung witzigerweise auch John Wayne höchstselbst gehörte und zwar schon 1962 in 'Hatari' von Howard Hawks.

Nichts zeigte das Zusammenbrechen dieses uramerikanischen Genres deutlicher als das 'Ben Hur'-Equivalent des Westerns: 'How The West Was Won' sollte den neuen Standard im US-amerikanischen Selbstverständnis für die Geschichte der Landnahme setzen und scheitere künstlerisch grandios. John Ford inszenierte mit 'The Man Who Shot Liberty Valance' (1962) dann schon eher ein Melodram und klaustrophobisch gebrochenes Kammerspiel, statt dass noch gloriose Landschaften als Mitspieler der Handlung eingesetzt werden wie in 'The Searchers' (1956). Die Zeit des klassischen Westerns war 1959 vorbei, auch wenn John Ford zu Dreharbeiten ins Monument Valley für die 70-mm-Produktion 'Cheyenne Autumn' nochmals 1963 zurückkehren wird. Sein Versuch der Rehabilitation des Westerns als Genre scheitert an seinen ästhetischen Überhöhung des dargestellten Grauens. Die aufkommende Ambivalenz des Western-Personals einschließlich der Verdunklung des Helden hatte Edward Dmytryk bereits 1959 mit 'Warlock' eingeleitet; der romantisch-emphatische Western der 1950er-Jahre war passé.

Bei den Disney-Studios ist mit 'Sleeping Beauty' 1959 in Super Technirama 70 nicht nur technisch, sondern auch künstlerisch auf der Wippe ihrer Wendezeit: Die klassische Märchenproduktion im Zeichentrick-Kunsthandwerk der Animation geht ihrem Ende entgegen, über 'One Hundred and Ond Dalmatians' aus 1961 ist aber noch ein weiter Weg bis zur erzählerisch leichten Rhythmik eines 'The Jungle Book' (1967).

Der überragende Publikumserfolg der Jules-Verne-Verfilmung 'Around The World In 80 Days' im Todd-AO-Verfahren von 1957 durch Michael Todd hält die "Plüsch Fiction" des ausgehenden 19. Jahrhunderts als gemütlichem Sich-Einrichten des Menschen in einer Zeit aufkommender und ihre Einflußsphäre ausweitender "Elektronengehirne" und einer zunehmenden Tagesaktualität von Raketentechnik weiter virulent. Eine etwas andere Reise zum Gravitations-Zentrum des Kinos vollzieht 1959 daher 'Journey To The Center Of The Earth', bevor 'The Time Machine' 1960 nach H. G. Wells den "Plüsch Fiction"-Topos in die Disponibilität von linearer Zeit als Sprünge auf den als Rechenschieber gedachten Zeitpunkten einbringt; 'Voyage To The Bottom Of The Sea' dringt schließlich 1961 nach Unten, in die trotz Costeau noch allenthalben unbekannten Meerestiefen vor.

1962 wird "Plüsch Fiction" von 'Dr. No' abgelöst sein, der für fast fünf Dekaden nicht nur die Serie der Bond-Filme inititiert, sondern sein eigenes Markengenre mit der "Erotischen Action-Komödie im Kalten Krieg der Technik auf hohem Produktionsniveau" gleich mit. Bereits 1961 legten John Steed und Emma Peel mit 'The Avengers' und 1962 Simon Templar, kurz: 'The Saint', die Parallelgleise dieser neuen Gadgeterie zur Stimmungslage im Kalten Kriegs ins Fernsehuniversum.



VI. Kontinentalverschiebungen: Riffe und Erdbeben

Die Kontinentalverschiebung zwischen der europäischen und der amerikanischen Biosphärenplatte des Kinos führt zu erdbebenartigen Zuständen in den nach sprachlichen Kulturräumen getrennten National-Cinematographien des europäischen Kulturraums, die in einer Form raumzeitlicher Singularität in der Wende von den 1950er- zu den 1960er-Jahren für ein einziges Mal aus ihrer Vielheit eine identitätsstiftende Homogenität des Aufbruchs und des Neubeginns schaffen konnten.

Insbesondere in Frankreich äußert sich dies in Reibungsenergeie zur Bordkante des Atlantiks bei einer ganzen Generation junger Autorenkäften, die in einer Einheit von Diskurs und Herstellungspraxis sich dem Neuschaffen von Filmkunst aus dem erkennenden Gegenlehnen gegen die als Masse- und Gravitationskraft anerkannte Produktivität der Kinowelthauptstadt Amerikas widmen.

Im Einzelnen handelt es sich um:

Godard, geboren am 03.12.1930, mit 'À bout de souffle' (1960), 'Charlotte et son Jules' (1960), 'Une femme est une femme' (1961), ' Une histoire d'eau' (1961), 'Vivre sa vie: Film en douze tableaux' (1962), 'Le petit soldat' (1963), 'Les carabiniers' (1963) und 'Le mépris' (1963);

Truffaut, geboren am 06.02.1932, mit 'Les Quatre cents coups' (1959), 'Tirez sur le pianiste' (1960) und ' Jules et Jim' (1962);

Malle, geboren am 30.10.1932, mit 'Ascenseur pour l'échafaud' (1958), 'Les amants' (1958), 'Zazie dans le métro' (1960), 'Vive le tour' (1962), 'Vie privée' (1962) und 'Le feu follet' (1963);

Resnais, geboren am 03.06.1922 und damit bereits rund zehn Jahre älter als das Haupttrio der "Nouvelle Vague", mit 'Hiroshima mon amour' (1959), 'L'année dernière à Marienbad' (1961) und 'Muriel ou Le temps d'un retour' (1963);

Zunächst noch im Schlagschatten der publizistischen Erfolge von Godard, Truffaut, Malle und Resnais sind drei weitere französische Regisseure in dieser Wendezeit aktiv:

Rohmer, geboren am 04.04.1920, mit 'Le signe du lion' (1959) und 'Présentation ou Charlotte et son steak' (1960);

Chabrol, geboren am 24.06.1930, mit 'Le beau Serge' (1958), 'À double tour' (1959), 'Les cousins' (1959), 'Les bonnes femmes' (1960), 'Les godelureaux' (1961) und 'L'oeil du malin' (1962);

Rivette, geboren am 01.09.1928, französische Spätstarter der Nouvelle Vague, mit seinem damaligen, filmischen Erstversuch als Regisseur bei 'Paris nous appartient' (1960).


Das "British New Cinema", also die "60s British New Wave" der "Angry Young Men", reibt sich weniger als ihre französischen Kollegen an der Autorenfrage in einer Auseinandersetzung mit dem US-amerikanischen Kommerzkino, als vielmehr an den realen, den tatsächlichen sozialen Verhältnissen ihrer Gesellschaft, mit einem dokumentarischem Blick für die Darstellung des Impaktes dieser sozialen Verhältnisse auf die handelnden, im Konflikt stehenden, Individuen. Diese Formpressung im englischen Kinos ist so druckvoll, dass sie noch in den Nuller Jahren bei Ken Loach in direkter Linie als Prägung nachwirkt; die rigide Klassengesellschaft der UK-Gesellschaft mag hier eine Druck generierende Lavabuchte sein: Kino wird so zum Mini-Vulkan.

Tony Richardson bringt nach 'The Entertainer' von 1960 als Osbourne-Verfilmungsvehikel für Laurence Olivier dann im darauf folgenden Jahr nicht nur 'A Taste Of Honey', sondern im selben Jahr auch die William Faulkner Verfilmung 'Sanctuary' ins Kino; 1962 folgte 'The Loneliness of the Long Distance Runner'. Die Klarheit des dokumentarischen Blicks zeigte sich auch in 'Saturday Night And Sunday Morning' aus 1960 in der Regie von Karel Reisz. John Schlesinger begründete seine Weltkarriere mit 'A Kind Of Loving' von 1962 und in 1963 mit 'Billy Liar'. Knallharter Realismus auch bei 'The L-Shaped Room' (1962) in der Regie von Bryan Forbes.

Man kann sagen, dass sich Preminger zur Nouvelle Vague in etwa so verhalten hat, wie Lean zu den Angry Young Men: nämlich gar nicht. Leans 'Lawrence of Arabia' von 1962 wird von vielen Kinoenthusiasten auch heute noch schlichtweg als das bedeutendste Großepos der Filmgeschichte angesehen. Lean produzierte historisches Ablenkungskino für den Weltmarkt auf höchstem 70-mm-Produktionsniveau, allerdings in starkem Kontrast zum um ihn herum allenthalben aufsprießenden Realismusschub im Gegenwärtigen einer nachdrängenden, eher skizzenhaft untersuchenden denn in epischer Breite erzählenden Künstlergeneration. Was hätte Lean an Beginn der 1960er Jahre auch anderes tun können, als sich selbst und seiner kinematographischen Tradition des britischen Tonfilmkinos treu zu bleiben und es im Sensibilitätsverlangen einer bislang gesicherten Karriere in epische Breite aufzublasen? — Powell war da schon riskanter und ruinierte 1960 mit dem für eine Reflektion der cinematischen Erfahrung im Kino wesentlich bedeutenderen 'Peeping Tom' fast seine Karriere als Kinoregisseur. Nach Fernseharbeiten und drei unbedeutenderen Arbeiten setzte Powell immerhin noch mit 'Age of Censent' (1969) ein Spätwerk mit Relevanz.

Demgegenüber fand das Quartett Lean/Bold/Young/Jarre im italienischen Filmproduzenten Carlo Ponti 1965 den Finanzier des — nach Spiegels Produktionen von 'The Bridge on the River Kwai' (1957) und 'Lawrence of Arabia (1962) — dritten Leanschen Großepos 'Doctor Zhivago'. Es ist bislang noch nicht wieder gelungen, diese Balance zwischen europäischem Talent und europäischen Fianziers, zwischen Avanciertheit eines europäisch sensibilisierten Erzählstils und ökonomischem Erfolg im internationalen Weltmaßstab nochmals wieder herzustelle; darin bleibt Lean eine singuläre Erscheinung.

Der dynamistische Initiationsschub für das "British New Cinema" von Richardson, Reisz, Schlesinger und Forbes dürfte 1959 allerdings die Produktion 'Room at the Top' des Regisseurs Jack Clayton gewesen sein, der dafür bei den US-Academy-Awards im Jahr 1960 für die Kinosaison 1959 insgesamt sechs Oscar-Nominierungen einfahren kann und zwar in bedeutenden Kategorien wie "Best Picture", "Best Actor LR", "Best Actress SR" sowie "Best Director". Als Lohn für diesen neuen Ton einer schockierend direkten Schonungslosigkeit erhält nicht nur Simone Signoret in dieser Titanenschlacht zwischen 'Ben Hur' (11 Oscars) und 'Anatomy Of A Murder' (7 Nominierungen, kein Oscar) schließlich den Academy Award als "Best Actress in a Leading Role", sondern Neil Paterson auch einen Oscar für sein "Best Writing based on material from another medium".

Allerdings war die britische Kinematographie auch ohne die "Angry Young Men" nach wie vor sehr lebendig, wovon alleine im Verlauf des Jahres 1962 eine ganze Reihe eher randständiger Werke außerhalb der "British New Wave" wie 'Dilemma', 'Tomorrow At Ten', 'The System' und 'A Kind Of Loving' zeugen.

Im Spanien unter Francos Diktatur macht sich der Produzent Samuel Bronston Währungsgefälle, Lohnkostenniveau-Unterschiede und politische Protektion eines totalitären Regimes zu Nutze (was für unsere Ohren sehr bekannt klingen sollte) und produziert 1961 mit den beiden Super Technirama 70-Produktionen 'King of Kings' unter der Regie von Nicholas Ray sowie 'El Cid' in der Regie von Anthony Mann zwei der intelligenteren Versionen des Sandalenfilm-Genres im Zeitgeschmack unter Beteiligung von Weltstars vor und hinter der Kamera und zwar für den Weltmarkt. Tony Williams hat in einem Essay aus dem Jahre 2008 sich 'King of Kings' nochmals vorgenommen und bemerkt im Sandalenfilm-Genre eine US-amerikanische "Körperpolitik der Eisenhower-Ära", bei der die eingeforderte Frömmigkeit des Christentums als Methode der Sozialkontrolle der Post-McCarthy-Verfolgungen fortwirkt. Für Williams altert 'King of Kings' wesentlich angenehmer als die anderen und vergleichbaren Zeitprodukte des Genres wie 'Ben Hur', 'Greatest Story Ever Told' oder 'Barabbas' (1962), einfach weil das utopische Element der Friedfertigkeit bei Rayschen Helden auch in 'King of Kings' als zum Scheitern verurteilter Imperativ sichtbar bleibt — und so auch die utopische Suche nach der alternativen Lebenswelt und alternativen Gemeinschaft von Gleichgesinnten die Zeitessenz der 1960er-Jahre im weiteren Verlauf der Dekade bereits vorwegnehmen kann. Dies ist im Übrigen auch der Grund, warum die anderen Werke von Ray aus den 1950ern in den 60ern bis in die 1970er so brandheiß aktuell bleiben. Wim Wenders wird dem sterbenden Ray 1980 mit 'Lightning Over Water' ein Denkmal setzen.

Ebenfalls in Spanien macht Saura zu dieser Zeit seine ersten Gehversuche als Regisseur und Buñuel kehrte 1961 aus dem Mexikanischen Exil auf Einladung von Franco nach Spanien zurück und erzeugt dort 1961 mit 'Viridiana' Aufführungsverbot und Skandal gleichermaßen, während er dafür in Cannes die Goldene Palme und damit weitere internationale Reputation für den Innovationsimpakt des Kinoinnovationen gegenüber offenen Weltpublikums gewinnt.

In Portugal partizipiert 1959 Manoel de Oliveira mit dem 51-minütigen 'O Pão' an der allgegenwärtigen Realismuslust auf seine Weise, wenn "unser tägliches Brot" gebacken und beim Backen sowohl analytisch wie auch poetisch gefilmt wird.

In Italien differenziert sich die als Erbe Rossellinis und de Sicas gepflegte Tradition filmischen Realismus um jeweils eine poetisch intim sinnsuchende, eine träumerisch verspielte und eine opulent gestikulierende Note, wenn sowohl Antonioni, Fellini als auch Visconti in dieser Transmissionswelle des Kraftkinos alle drei nur schwerlich zu übertreffende Gipfelwarenprodukte anliefern: Antonioni 1960 mit 'L'Avventura', 1961 mit 'La Notte' und 1962 mit 'L'Eclisse'; Fellini 1960 bei 'La Dolce vita' und 1963 durch '8½'; Visconti 1960 mit 'Rocco e i suoi fratelli' und 1963 mit 'Il Gattopardo'. Demgegenüber startet der im schonungslosen Blick auf die tatsächen Verhältnisse unbestechliche Pasolini 1961 seine Regielaufbahn, die das Unbehauste und Ausgestoßene suchen wird, mit 'Accattone'. Antonioni, Fellini und Visconti sind auf der Höhe ihrer originären und der ihnen, ihrer Zeit und ihren Produktionsbedingungen adäquaten Filmsprache angekommen; Pasolini findet hier den Humus für eigenes Wachstum.

In Polen macht 1959 ein junger Filmstudent namens Roman Polanski, geboren 1933, sich einen Namen mit seiner 21-minütigen Abschlussarbeit an der Filmakademie von Lodz unter dem Titel 'Gdy spadaja anioly' (Wenn Engel fallen), bevor 1962 sein 'Nóz w wodzie' (Das Messer im Wasser) das Filmland Polen sofort mit einer roten Flagge auf die Landkarte aktueller Kinobewegungen setzen wird. Der 1926 geborene Andrzej Wajda ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit über einer Dekade als polnischer Filmregisseur aktiv.

Am Deutlichsten entzieht sich der Schwede Bergmann einem "Klappscharnier-Schematismus". 1959 ist mit ihm kinoseitig wenig anzufangen. Auch sind 'Jungfrauenbrunnen' von 1960 und 'Winterlicht' von 1962 gegenüber dem, was Bergmann dem Weltkino unmittelbar zuvor und direkt danach zugemutet hatte, eher vernachlässigbar. Der internationale Durchbruch ins Popularkino mit den beiden Werken 'Das siebente Siegel' und 'Wilde Erdbeeren' lag schon im Jahr 1957 zurück. Mit 'Das Schweigen' fokusiert sich im Jahr 1963 die Darstellung einer Finsternis der menschlichen Existenz ins Kino zurück und beeindruckt dort nicht nur Kritiker.

In Japan stirbt Yasujiro Ozu 60-jährig am 12.12 1963 und hinterlässt als Spätwerk 'Ohayô' (1959), 'Ukigusa' (1959), 'Akibiyori' (1960), 'Kohayagawa-ke no aki' (1961) sowie 'Sanma no aji' (1962). Anders als bei Akira Kurosawas "instant success" in der westlichen Welt der 1950er-Jahre fand die Werkrezeption bei Ozu im Westen wesentlich langsamer und gleichsam osmose-artig statt; fast möchte man sagen, Ozus zen-haftes Kino benötigte gleichsasm erst eine Art vorausgehende Bewußtseins-Öffnung, die Schaffung einer Aufnahme-Bereitschaft im Westen, zeitlich indiziert etwa durch die Entdeckung von Chiron im Jahre 1977, um sein Werk als Weltkino auch weltweit überhaupt wahrnehmbar zu machen.

Das, was wir nach 50 Jahren nun "Weltkino" nennen können: cinegraphische Haltungen mit individueller Handschrift auch von Autorenregisseuren aus China, Südostasien, Afrika, Südamerika und Ozeanien ist das geschichtlich vermittelte Produkt dieses Aufbruchs von 1959 - 1962 in seiner zeitlich-linearen Folge politischer und sozialer Entwicklungen und Verwicklungen.

Ohne jene "Riffe" und "Erdbeben" der in den Jahren 1959 bis 1962 vorausgegangenen "Halbe Welt Kinos" wäre es in anderen Regionen nie in dieser Form zu einer solchen Bewegungübertragung des Kinos gekommen. Man kann gerade heute sehr intensiv beispielsweise an der Rezeption der europäischen Kinoklassiker via Silberscheiben-Distrubition durch Autoren der südost-asiatischen Kinematographien beobachten, die auch freimütig von diesen Erfahrungen berichten.

Ich gebe allerdings sofort zu, dass diese kursorischen Berührungen das russische Kino der Sowjetunion und des weiteren Ostblocks viel zu kurz kommen ließen. Jeder folgt seinen Neigungen und seinem Geschmack. Jedenfalls hatte die DDR mit der bereits notierten Golden Palme 1959 in Cannes bereits Weltspitzengeltung nachweisen können, und brauchte dazu eigentlich gar nicht mehr die 70-mm-Technologie mit dem DEFA70-Verfahren zu adaptieren, um diese erneut sich und anderen zu beweisen.



VII. Eine Ökologie der Kino-Biosphäre: technisch-handwerkliche Artenvielfalt

Rein technisch betrachtet liegt vor den Kinomachern von 1959 eine ausdifferenzierte Artenvielfalt der Handwerksmethoden und technischer Arbeitsmittel, wie man sie zuvor noch nicht kannte und danach durch Gattungsdezimierung immer mehr beschnitten hat; den Kinomachern dieser Zeit lagen viele technische Möglichkeiten bereit, jeweils mit noch ausreichendem Neuheitenreiz für eigene Erkundungen und Neuanwendungen ungewöhnlicher Kombinationen.

Zunächst stehen sich im Zeitraum von 1959 bis 1962 die monochromatische und vollfarbige Wiedergabemethode als gleichberechtigte Wahlmöglichkeit zur Verfügung. Es war damals weder "arty" noch "geschäftsschädigend" in Schwarz-Weiß zu drehen, noch mußte man den Einsatz von Schwarz-Weiß rechtfertigen (wie bereits dann bei 'Manhattan' oder 'Raging Bull'). Im besagten Zeitraum ist zudem die Vollfarbdarstellung nicht mehr mit dem Menetekel einer zu aufdringlichen Künstlichkeit belegt, wie man es noch in den 1930er- und 1940er-Jahren vorfand, im Kinodiskurs wahrgenommen und beschreiben hat. Der Zeitraum von 1959 bis 1962 benennt hier einen Übergang. Die Farbverfahren in ihrer Pluralität haben ihre spezifische Charakteristik und sind nach den Anfangsjahren so weit ausdifferenziert, dass mit ihnen und in ihrem Farbraum und mit ihrer Farbcharakteristik aufgrund von ausgiebigen bisherigen Erfahrungswerten auch bei Weiterentwicklung der technischen Parameter nuanciert gearbeitet werden kann. Daraus kann insoweit generalisiert werden, dass Schwarz-Weiß durch das Aufkommen des Fernsehens und den Nochverbleib der Wochenschau als integraler Bestandteil der Kinopräsentation einen "realistischeren", "zeitnäheren" und "dokumentarischeren" Bezug durch die Materialqualität des Monochromen zuschrieben wurde und dass damals der Farbfilm – ebenfalls generalisiert bewertet – noch die Aura des Besonderen besaß. Wahlmöglichkeit bedeutete dies auch ökonomisch; denn monochromatische Rohfilmmaterilien und entsprechende Kopierwerksverarbeitungen waren damals deutlich kostengünstiger in der Produktionskalkulation anzusetzen als Farbverfahren. Auch dies hat sich spätestens seit den späten 1970er-Jahren nivelliert, wie auch heute Kriegsdokumentationen über den Zweiten Weltkrieg eigentlich nur noch mit Farb-Amateurmaterial "authentisch" zu bekommen sind. Wir stehen heute ohne die Kunst der Monochromatik als fehlendes Handwerk da. Demgegenüber ist das Abstellen des Chroma-Levels im digitalen Farbraum nicht viel mehr als ein Mätzchen.

Nicht nur bei den Farbverfahren herrschte damals Pluralität; gerade beim monochromatischen Rohfilmmaterial und der dafür eingesetzten Photochemie konnte die Dramatik der Schwarz-Weiß-Dramaturgie auch in der Textur des Materials verstärkt oder mit ihr reduziert werden. Traditionelle Dünnschicht-SW-Stocks sind damals noch als Standards im Gebrauch, wie auch Bruts, Lichtbogenlampen. Damit konnten nach klassischem Stil die Lichtcrews und DOPs noch in traditioneller Art aus der Zeit der Heraufkunft des Films als Kunst Licht setzen und gesetztes Licht adäquat monochromatisch abbilden. Diese Kunstübung ging etwa 15 Jahre später verloren, entsprechhend einer sich zusehends auf Eastmancolor (als späterem einzig noch gültigen Farbstandard) einengende filmische Farbdarstellung ab den späten 1960ern. Es ist dem heute zeitgenössischen Produktionspersonal mit ihrem "Colorizing-Wahn" kaum mehr zu vermitteln, dass für die Norm der Farbdarstellung in Parametern des Farbraums, der Tönung und Farbtendenz sowie des Farbkonstrastes zunächst die Firma Eastman Kodak mit ihren Produktangeboten zuständig war, in die man geringfügig im Kopierwerksprozess nur in sehr engen Grenzen Einfluß nehmen konnte. In dieser Perspektive stellt der Zeitraum vom Ende der 1970er-Jahre bis zur Einführung des Digital Intermediate gegenüber 1959 einen Rückschritt dar: Technicolor war mit seinen Möglichkeiten für die Herstellung von Kinoprints zur Distribution eine damals sehr lebendige und ebenfalls ausdifferenzierte Option industrieller Handwerkskunst.

Ausdifferenziertheit der technischen Kinogattungen beschränkt sich allerdings nicht nur auf die Frage von Farbe oder Schwarz-Weiß und der zur Verfügung stehenden Beleuchtungstechnik. Der früh gesetzte Kinostandard des 35-mm-Normalfilms erhält im Zeitraum 1959 bis 1962 – nicht gleichwertige – aber gleichberechtigte Ergänzung durch das praxisbezogen (also nicht mehr exotische) und nach Adaptionen im Produktionsprozess regulär anwendbare 70-mm-Filmformat in seinen Darbietungssystemen und Anwendungsformen. Es geht hier also nicht darum, wann eine Innovation erstmals in den Markt gestellt wurde, sondern darum, wie sie vom Markt verdaut werden konnte und zu einem brauchbaren Tupfer auf der Arbeitspalette der Kreativen wurde. Auf dieser Palette verfügbarer und als Darstellungsmethode frei auswählbarer, technischer Kinoverfahren zählen damals natürlich auch die verschiedenen Versionen der Horizontalbelichtung auf 35-mm-Filmbreite über 8 Perforationslöcher pro Bild von VistaVision bis Super Technirama 70.

Mit dem anamorphotischen 65-/70-mm-Verfahren "MGM Camera 65" und später "Ultra Panavision 70" erhält die Raumbildpräsenz der Breitfilmverfahren ihre raumaufschließende und raumergreifende Dimension, die in dieser Form mit Weitwinkeloptiken nie möglich wäre; insofern ist das heutige "Pseudo-CS" mit Weitwinkeln und Bildbeschnitt im Bildkreisdurchmesser von Super35 (auch digital) ein einziger Beschiss. Demgegenüber ist 1959 vom Academy Format (1,37 : 1) über sphärische und beschnittene Breitwandformate, das als Weltstandard durchgesetzte CinemaScope bis hin zu Ultra Panavison 70 (2,78 : 1) auf Palette der Kinodramaturgie technisch-handwerklich vieles möglich. Kluge Produzenten, Regisseure und DOPs haben damals weise Entscheidungen getroffen und – was noch wichtiger ist – auch treffen können. Mehrkanal-Tonmischungen bis hin zu 6-Kanal-Mischungen für 70-mm-Kinodarstellung sind eingeübt und stehen ebenfalls als kinotechnisches Handwerk und technische Einrichtung in verschiedenen Mischstudios zur Verfügung. Magnetband, Magnetfilm und photochemischer Film in Aufnahme und für die Distribution ergänzten sich als linear arbeitende Materialstämme ganz hervorragend. Inzwischen sind wir heute so weit davon entfernt, dass man dies nunmehr explizit betonen muss.

Das Entscheidende aber ist, dass neben der 70-mm-Option als Ergänzung zum 35-mm-Normalfilm sich 1959 das Tor auch für das 16-mm-Format als Produktionsoption im Kino öffnet. Frühe Anwendungen der damals noch ganz neuen Transistortechnik machen Pilotton und damit die synchrone Tonaufnahme mit vom Stativ abgekoppelten und auf Schulter gesetzten Kameras möglich; Richtmikrophone grenzen den Aufnahmeton vom Kamerageräusch ab, bevor geräuscharme, geblimpte Kameras zur Norm werden. Wie schon in der Gründungsphase der Kinematographie einer Trennung von Fiktions- und Dokumentarwerk bei Méliès und den Gebrüdern Lumière wird 1959/1960 diese neue 16-mm-Option für das Kino sowohl von einem Szenaristen wie von einem Dokumentaristen aufgegriffen, nämlich bei 'Shadows' (EA 11.11.1959) von John Cassavetes und bei 'Primary' (1960) von Robert Drew, der damit das "cinéma vérité" bzw. "Direct Cinema" begründet. Was in der 16-mm-Option an kreativem Potential steckte, gerade dann, wenn man mit Duo-Panels und Multiperspektiven im Blow-Up von 16-mm auf 35-mm-CinemaScope und ins 70-mm-Format arbeitet, darf dann 1970 'Woodstock' zeigen. Allerdings wäre 'Woodstock' undenkbar, ohne eine weitere Innovation aus dem Jahr 1959, nämlich 'Jazz On A Summer's Day' des Fotografen Bert Stern, der mit seinen freizügigen Farbportaits von Marilyn Monroe Weltruhm erwarb. 'Jazz On A Summer's Day' holte als Musikdokumentarfilm des Newport Jazz Festivals von 1958 den Jazz aus den verrauchten, schwarz-weißen Kellerzimmerwinkeln heraus, in der Umkehrung des Direct Cinema als Direktes Kino eines vollen Lichts der Farbe, in 35-mm-Eastmancolor-Farbnegativ auf Stativ und in der Hand gedreht, mit der Nah-Präsenz durch Entfernung mittels Tele-Portrait-Optiken der Kleinbild-Fotografie (108 mm Brennweite) in ihrer Adaptierung auf Filmkameras. — Im Zeitraum von 1959 bis 1962 wird im Übrigen auch das Kunsthandwerk hochwertiger Blow-Ups vom CinemaScope-Format auf 70-mm erprobt und eingeübt als eine weitere Option auf einer extrem reichhaltigen und vielgestaltigen handwerklich-technischen Palette des Kinos.

Ergänzt werden darf hier angesichts der sich stets weiter tradierten Überzeugung, das Kino von 1959 hätte todesmutig auf das Fernsehen reagieren müssen, die Erkenntnis, dass zumindest in Westdeutschland vor 1959 von Fernsehen keine Rede hat sein können: Fernsehen bedeutete auf der technisch-materiellen Ebene eine Abspielstation von Filmabtastern mit der Option zur elektronischen Direktübertragung von Ereignissen wie dem ersten Fernsehkoch. Erst im Juli 1958 wird die erste AMPEX-Maschine, ein Zwei-Zoll-Quadruplex Video-Recorder von AMPEX aus Kalifornien mit der Typenbezeichnung VR-1000A beim Südwestrundfunk in Baden-Baden als Überseekiste ankommen und betriebsbereit sein. Für das Fernsehen beginnt die Gegenwart als eigenständiges Medium nach einer ersten kürzeren Testsendung am 12.09.1958 erstmals am 19. Feburar 1959 mit der Ausstrahlung von 'Der Besuch der alten Dame'; hier liegt in Deutschland die örtliche und zeitliche Zuordnung einer medialen Schwellenüberschreitung von Vorläuferfunktionen zum richtigen Fernsehen mit einer elektronischen Unabhängigkeit der Produktion von der Distribution im medienadäquaten Kultur-Speicher.






VIII. Lufthohheit über Westdeutschland

Angesichts dieser qualitativen wie quantitativen Angebotswucht aus dem Ausland erscheint es mehr als verständlich, dass die westdeutschen Cineasten ihrer Zeit Mühe hatten, trotz offener Grenzen für fremde Kulturangebote überhaupt sich zunächst einen Überblick zu verschaffen. Die Geschichte, die mir Edgar Reitz 1996 in Karlsruhe erzählte, wonach er und einige Freunde auf einem Hinterzimmer-Schneidetisch sich irgendwie beschaffte 35-mm-Kopien des italienischen Neorealismus ansah, erscheint mir symtomatisch. Es gab noch keine tragende Infrastruktur an Kinematheken, Filmarchiven, Filmbibliotheken, Kommunalen Kinos, Museumkinos etc. Schlöndorffs Erinnerungen zu Henri Langlois und seiner Cinémathèque Française sind ebenfalls legendär als Relevanz für den aufkommenden Jungen Deutschen Film der beginnenden 1960er-Jahre.

Für ein kinematographisch erweiteretes Verständnis einer neu heraufbrechenden Zeit kann man nun leicht nachvollziehen, dass auch eine neue westdeutsche Kinematographie — die seit Anbeginn unter Legitimationsgebot mit Volksverdummungsverdacht stärker als irgendwo sonst stand — im Zeitraum von 1959 bis 1962 unter gewissen "Geburtswehen" litt, um mit dem hier kursorisch genannten "Weltspitzenniveau"-Sortiment zumindest im Diskurs mithalten zu können.


Die Entwicklungslinie in Westdeutschland von der Gründung der Münchener Gruppe DOC59 hin zum Oberhausener Manifest im Zeitraum vom Februar 1959 bis zum Februar 1962 ist recht gut dokumentiert. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Produktionsstrukturen in Westdeutschland unter einem enormen Publikumsschwund bei der Kinodistribution seit den Höchstständen mit rund 800 Millionen Kinobesuchern pro Jahr noch zu Anfang der 1950er Jahre litten.

Strittig hingegen ist nach wie vor, ob dies mehr auf die Einführung des regelmäßigen Fernsehbetriebs und der doch recht behäbigen Durchsetzung des Fernsehens als Massenmedium in Deutschland zurückzuführen sei, oder ob dies nicht doch mehr auf die Fantasielosigkeiten des damals künstlerisch auf zu niederem Niveau mit Genrewiederholungen arbeitenden Produktionsbetriebs zurückzuführen sei (der es als "fortgesetztes Ufa-Kartell" nicht mehr vermochte, in ausreichendem Maße Kinoattraktionen bereitzustellen, die einen internationalen Vergleich bei abnehmendem Marktanteil einheimischer Produktionen nicht scheuen mussten), -- oder ob es nicht doch am Branchen-Unvermögen lag, die am Ende der 1950er-Jahre weltweit sich allenthalben auch vulkanisch äußernden Reformbewegungen des Kinos produktiv auch in Westdeutschland zu integrieren. Im Umkehrschluß kann letzteres allerdings auch bedeuten, dass das nachwachsende kreative Personal sich als unfähig erwies, vorhandene Strukturen durch Einbringen frischer Impulse zu erneuern. Vielleicht waren diese damals vorhandenen Strukturen also bereits so morsch, dass tatsächlich eine komplett neue Basis kultureller und wirtschaftlicher Förderung notwendig wurde, damit neue Strukturen aufbauen zu müssen.

Insgesamt hat sich bis heute allerdings das Denkschema festgesetzt, dass das "Oberhausener Manifest" vom Februar 1962 eine direkte Replik auf die Welle der "Heimatfilm" der 1950er-Jahre darstelle, namentlich explizit auf 'Schwarzwaldmädel' (EA 07.09.1950) und 'Grün ist die Heide' (EA 14.11.1951) als ikonische Werke dieses Genres. Die Erstaufführungsdaten belegen es: Der "Heimatfilm" mit seinen beiden Initiations-Ikonen war im Februar 1962 bereits mehr als eine Dekade zeitlich von der westdeutschen Erneuerungsbewegung entfernt.

Bei diesem nach wie vor zementierten Denkschema -- "NDF war Gegenbewegung zum Heimatfilm" -- wird also vor allem verdeckt, gegen welche Konkurrenz der Junge Deutsche Film als sich bildende Konzeption am Ende der 1950er-Jahre antreten musste und zwar nicht nur auf der internationalen Bühne, sondern auch bei den Produkten aus westdeutscher Produktion.

Die Verspätung Westdeutschlands auf dem Gebiet der kinematographischen Erneuerung ihrer Nationalkinematographie lag also nicht nur an den fehlenden Strukturen der kulturellen und finanziellen Förderung der Reformbewegung, sondern auch am insgesamt starken Umfeld der filmkünstlerischen Produktion gegen Ende der 1950er- bis zum Anfang der 1960er-Jahre.

Erst jetzt, 50 Jahre danach, wird in einzelnen Filmreihen (zum Beispiel im Berliner Zeughauskino) deutlich, mit welcher künstlerischen Kraftanstrengung die damals in ökonomische Schwierigkeiten steckende, etablierte Kinobranche Westdeutschlands sich gegen ihre Situation einer Absatzkrise wehrte. Der damalige Hohn der Altbranche gegen Kluge, Reitz, Senft & Co. war seinerzeit mehr als berechtigt und dazu auch noch fundiert. Es dauerte somit noch fast eine Dekade, bis sich die bildende Konzeption eines Jungen Deutschen Films dann auch zum tatsächlichen, real-existierenden "Neuen Deutschen Film" mit breiter Talentbasis umsetzen konnte, auch wenn 1966 mit 'Der junge Törless' bereits ein früher und französisch gefärbter Startschuss erfolgte.

Ich möchte die behauptete "künstlerische Kraftanstrengung" des westdeutschen Popularkinos im Zeitraum von 1959 bis 1962 wieder kursorisch belegen; dabei führt zunächst kein Weg an Tressler, Lüdecke und Tremper vorbei: 'Die Halbstarken' (EA 27.09.1956), 'Nackter Asphalt' (EA 03.04.1958), 'Das Totenschiff' (EA 01.10.1959) und 'Geständnis einer Sechzehnjährigen' (EA 31.01.1961) sind auch heute noch funktionierender Ausdruck eines Zeitkinos, welches belegt, dass die gesamten gesellschaftlichen Umwälzungen der 1960er-Jahre bereits in den 1950er-Jahren in der Popularkultur als "Übergangsobjekt" (Winnicott) ikonisch bereits vorweg genommen wurden. In diesen Zusammenhang darf man auch Gerd Oswalds 'Am Tag als der Regen kam' (EA 24.11.1959) und Siodmaks 'Nachts wenn der Teufel kam' (EA 19.09.1957) stellen.

Auch die in bis zur Mitte der 1950er-Jahre unterdrückte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wird entgegen dem sich allgemein festgesetzt habenden Denkschema nicht erst mit dem Jungen Deutschen Film durchbrochen, sondern steht auch in der westdeutschen Filmproduktion im Kontext einer internationalen Welle. Die beiden Beispiele 'Anne Frank' und 'Urteil von Nürnberg' wurden schon genannt.

'Canaris' (1954), '08/15' (zwei Filmteile, 1955) und 'Der Fuchs von Paris' (EA 14.11.1957) von Paul May und Reinecker sowie am Stärksten bei 'Liebling der Götter' (EA 12.04.1960) mit Ruth Leuwerik und Peter van Eyck in der Regie von Gottfried Reinhardt sind für mich Belege für — durchaus auch untaugliche — Wiedererinnungsversuche einer Wiederbegegnung mit den erlebten Lebensverhältnissen im NS. 'Wir Wunderkinder' (EA 28.10.1958) in der Regie von Kurt Hoffmann befragte zuvor schon die Haltung des "Davon haben wir nichts gewußt" aus einer Alltagsperspektive kritisch und antwortet negativ: natürlich hat man Vieles gewusst. Das ist insofern bemerkenswert, als dass Kurt Hoffmann der "Spielleiter" von 'Quax, der Bruchpilot' (1941) war und zudem für die geistvolle aber unpolitische Unterhaltungsware im westdeutschen Kino der 1950er ein sicheres Gespür hatte. 'Wir Kellerkinder' (EA 06.10.1960) spitzt die Fragen zur Vergangenheit des NS in der westdeutschen Gegenwart am Dekadenwechsel nochmals zu. Vom westdeutschen Kino als einem durchgängig unpolitischen mit Verdrängungswirkung durch ausschließlich minderwertige Heimatfilm-Ware zu sprechen, kann so jedenfalls nicht aufrecht erhalten werden.

Natürlich sollte man diese Filmreihung noch nicht als Aufarbeitungsversuch zur Erörterung einer kritischer Moralität einschließlich beschämender Selbsteinsicht werten (eher schon als Selbstgerechtigkeitsvehikel), wohl aber taugen die genannten Werke als Versuch einer Wiederbeschäftigung in früher Vorstufe zu einer Aufarbeitung hin, wie sie dann "zart" in den 1960er-Jahren und schließlich nachhaltig im Westdeutschland der 1970er-Jahre statt fand. Nach 'Liebling der Götter' würde ich mich bei heutiger Betrachtung dieser Filmreihung in der zweiten Hälfte der 1950er am Dekadenwechsel zu den 1960ern daher sogar zur These hinreißen lassen, dass die erste Welle der vielen kritischen Fragen jener in den 1960er-Jahren jungen Generation ohne die Wirkung dieser Filme eigentlich unmöglich gewesen wäre. Die Jugendrevolte der "68er" kam nicht aus heiterem Himmel, sondern war Schritt-für-Schritt bereits in den 1950er-Jahren auch filmisch in der westdeutschen Kinematographie vorbereitet worden. Die Schwabinger Krawalle vom Juni 1962 und die Spiegel-Affäre vom Spätherbst 1962 peitschen ihrerseits das Zeitklima der Gesellschaft nochmals ganz real auf und sorgen dann für den Dynamisierungsschub zur offenen Entladung von Konflikten hin.

Gottfried Reinhardt präsentierte 1959 und damit zeitlich vor 'Liebling der Götter' drei weitere bemerkenswerte Kinowerke: 'Menschen im Hotel' (EA 23.09.1959) nach Vicki Baum, 'Der Tag, der nie zu Ende geht' (EA 22.12.1959) mit Ruth Leuwerik sowie 'Abschied von den Wolken' (EA 05.11.1959) mit Peter van Eyck.

Weniger auf die NS-Zeit reagierte Ufa-Legende Josef von Baky mit 'Gestehen Sie Dr. Corda' (EA 22.05.1958) denn auf einen Beinahe-Justizirrtum als Makel des demokratischen Systems der Nachkriegszeit Westdeutschlands; er folgt damit als Court Room Drama thematisch 'Alibi' (1955) von Weidenmann und Reinecker. Ebenso wenig eine inhaltliche Aufarbeitung der NS-Zeit stellt von Bakys Arbeit 'Die ideale Frau' (EA 25.08.1959) dar, in dem "Globalisierungsverlierer" soziale Ungleichgewichte des Wirtschaftswunders persönlich für sich einfordern: Wenn einem Verstrickungen innerhalb der eigenen Vita im Strudel aktueller Zeitströmungen zu unbequem werden, dann bedeutet dies noch lange nicht, dass man in teil-bewusster Unterschlagung nicht auch kritisch auf seine umgebenden Verhältnisse eingehen, reagieren und sie kommentieren kann; das Gegenteil in Form einer Symptomverschiebung ist wohl eher der Fall, müsste man auch bei Baky konstatieren.

In dieses Klima des langsamen, symbolsprachlichen Aufschließens deutscher Vergangenheit im kulturellen Diskurs bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Restauration vermeintlich bürgerlicher Werte der immer noch adenauerschen Kleinfamilie einer Nation im Exportüberschuss kehrt Fritz Lang, entmutigt und entkräftet von Hollywood, mit vielen ambivalenten Gefühlen nach Westdeutschland als Reimport zurück und dreht seine drei letzten Kinowerke als Regisseur: 'Der Tiger von Eschnapur' (EA 22.01.1959), 'Das indische Grabmal' (EA 05.03.1959) sowie 'Die 1000 Augen des Dr. Mabuse' (EA 14.09.1960).

Eine andere, nämlich eine literarische, Wendung nimmt Helmut Käutner mit 'Der Rest ist Schweigen' (EA 22.07.1959), der ihn als kritisch hinterfragenden Autor der unmittelbaren Nachkriegszeit 1959 zu Shakespeare führt und mit Hardy Krüger, Peter van Eyck, Heinz Drache, Boy Gobert, Charles Regnier, Hans Söhnker und Werner Schumacher ein Ensemble der besten männlichen deutschen Schauspieler seiner Zeit um sich versammelt. Curt Jürgens, O.E. Hasse und Martin Held drehten gerade die anderen bemerkenswerten Filme der damaligen Zeit.

Martin Held nämlich mit Wolfgang Staudte, dem Regisseur von 'Die Mörder sind unter uns' (1948) und 'Der Untertan' (1951), in der zum Thema der aufkeimenden Auseinandersetzung mit NS-Vergangenheit zweitwichtigsten Filmarbeit des Jahres 1959, mit 'Rosen für den Staatsanwalt' (EA 24.09.1959); O.E. Hasse genau ein Jahr zuvor mit Staudtes Filmarbeit 'Der Maulkorb' (EA 18.09.1958) nach Spoerl; schließlich Curt Jürgens, der 1960 in zwei Produktionen das gesamte Spektrum deutscher Ambivalenz oszillierte: in der Rolle des Werner von Basil bei 'Schachnovelle' (EA 16.09.1960) von Gerd Oswald nach Stefan Zweig und dann als reingewaschener und für die Raketentechnik der guten Sache brauchbarer 'Wernher von Braun' in dem gleichnamigen US-Film in der Regie von J. Lee Thompson (EA 19.08.1960). Für Thompson war dies als Regisseur die Vorläuferprodukton zu 'Guns of Navarone' (1961) und schließlich beides die Vorstufe zu 'Cape Fear' (1962).

Von Shakespeare geht für Käutner die literarische Reise weiter zu Scribe und damit zu einer Zusammenarbeit mit Gustav Gründgens für 'Das Glas Wasser' (EA Berlinale im Juni 1960), auch eine Art filmische Vorübung für Gründgens 'Faust' nach Goethe (EA 30.09.1960). Käutner als der Regisseur von 'In jenen Tagen' (1946), 'Die letzte Brücke' (1954) und 'Des Teufels General' (1955) wandelte sich zum Ende der 1950er-Jahre immer stärker zum Spielleiter des Unterhaltungsfilms, wovon 'Die Züricher Verlobung' (1956), 'Monpti'(1957) als Vehikel für das "Traumpaar" Buchholz/Schneider sowie 'Der Hauptmann von Köpenick' (1957) bereits zuvor Zeugnis ablegten. Heinz Rühmann wird in der Rolle des "Pater Brown" in 'Das schwarze Schaf' (EA 19.12.1960) und mit der Sequel 'Er kann's nicht lassen' (EA 19.10.1962) als "Father Brown" eine weitere Ikone der Kinounterhaltung schaffen, die noch knapp 50 Jahre später zu TV-Verfilmungen taugen wird. Bemerkenswert hier wie auch dort beim Wallace-Genre, dass sich die Westdeutschen nach ihrer Zähmung für die besseren Engländer hielten.

Obwohl man über die Ambivalenz des Produzenten Artur Brauner und seiner CCC-Filmcompany sowie über die Merchandise-Lizenzzirkus der Filmfigur Mabuse ganze Bücher schreiben konnte und könnte, seien die Fortsetzungsteile der dritten relaunchten Mabuse-Wiederverfilmung von 1960, die dann ohne Lang realisiert wurden, hier noch kurz erwähnt: 'Im Stahlnetz des Dr. Mabuse' (EA 13.10.1961), 'Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse' (EA 30.03.1962), beide in der Regie von Harald Reinl; 'Das Testament des Dr. Mabuse' (EA 07.09.1962), 'Scotland Yard jagt Dr. Mabuse' (EA 20.09.1963) und 'Die Todesstrahlen des Dr. Mabuse' (18.09.1964).

Die Mabuse-Serie ist ebenfalls Indiz jener Zeit, denn sie findet nicht zur zum Beginn der Bondfilm-Serie statt, sondern begleitet mit dem Beginn der Wallace-Serie durch 'Der Frosch mit der Maske' (EA 04.09.1959) letztlich auch den Aufstieg von Horst Wendlandt als eigenständiger Filmproduzent, der mit eigener Produktionsgesellschaft schließlich seinerseits die Karl-May-Filmwelle durch 'Der Schatz im Silbersee' (EA 14.12.1962) in Gang setzte. Das damalige Überhandnehmen des seriellen Formats im Kino sollte heute nochmals unter dem Aspekt einer Verschiebung der künstlerischen Qualität aus dem Kino in die Serienformate des Fernsehens, vor allen Dingen in den USA, untersucht werden.

Die Gleichzeitigkeit und Phasenverschiebung der Dr.-Mabuse-, Edgar-Wallace- und Karl-May-Filmeserien in Westdeutschland lässt sich als einer der eigentlichen und großen Kraftmotoren im ablehnenden Protestverhalten und in dieser Ablehnung identitätsstiftend für den Jungen Deutschen Film werten, der andere dürfte im Versuch der etablierten Branchenproduzenten begründet liegen, mittels internationaler Co-Produktionen, nicht-deutscher Dialogsprache und auf den ersten Blick nicht-deutschen Werk-Inhalten auf die Absatzmarktkrise nationaler Produktionen in der Kinematographie Westdeutschlands zu reagieren. Der Junge Deutsche Film der damaligen Zeit wollte im Autorengestus, der in der damaligen Zeit international allgegenwärtig wurde, eigene Geschichten über die eigene Geschichte verfilmen und zur Kinodarstellung bringen; die internationalen Co-Produktionsvehikel von "Opas-Kino" schienen dafür gänzlich ungeeignet zu scheinen.

Als Beispiel für solch eine "gesichtslose Produktion" der damaligen Zeit, heute hätte man "Euro-Pudding" dazu gesagt, darf hier das Werk 'The Brain' oder in Deutsch: 'Ein Toten sucht seinen Mörder' (EA 09.10.1962) aus den Studio-Werkstätten der CCC-Film dienen. In der Perspektive von heute, vom Jahr 2009 aus also betrachtet, ist dieses damals scheinbar trashige Trivialwerk geradezu als prophetisch für unsere Gegenwart anzusehen, eine Gegenwart, die die nicht nur Ganzkörperscanner einsetzt, sondern bereits am konkreten Gedankenlesen, Gedankenmanipulieren und an Human Brain/Maschine Interfaces als Machtmittel forschen lässt und arbeitet.

Niemals zuvor und bislang niemals danach hatte die Kinematographie Deutschlands einen solch starken Zeitbezug bei den behandelten Kinostoffen. Dabei darf daran erinnert werden, dass die US-Academy von 1960 für die Kinosaison von 1959 gleich zwei Oscar-Nominierungen beim Auslands-Oscar für Westdeutschland bedachte: 'Die Brücke' (EA 22.10.1959) in der Regie von Bernhard Wicki hat ihn schließlich auch gewonnen. Die damalige Auszeichnung geht auch nach 50 Jahren noch in Ordnung: 'Die Brücke' stellt das zentrale Werk der westdeutschen Filmproduktion des Jahres 1959 dar. Es darf als Nachlässigkeit durchgehen, dass sich die nachstrebende Kreativgeneration des westdeutschen Kinos nicht um Tressler und Reinhardt und nicht um Käutner und Staudte scharte; unverantwortlich hingegen ist die mangelnde Kooperation mit Wicki zu bewerten. Der war allerdings bereits auf dem Weg zum 'Längsten Tag' (1962) und zu Marlon Brando bei 'Morituri' (1965), um damit die Erfahrung einer Enttäuschung von Wenders und Schlöndorff am US-Kino sowie den Poker-Traum von Fassbinder um rund 20 Jahre vorwegzunehmen.

'Serengeti darf nicht sterben' (EA 25.06.1959) war der zweite für den Auslands-Oscar nominierte westdeutsche Film von 1960, der sich auch ohne Oscar einen Orden ans Revers stecken darf, Vorreiter eines ökologischen Verständnisses für kreislaufbezogene Lebenszusammenhänge im internationalen Diskursraum gewesen zu sein. 1959 ist übrigens auch das Jahr der Gründung des World Wildlife Fund (WWF) gewesen; Grzimek war damals 50 Jahre alt und hätte vor einigen Tagen seinen 100. Geburtstag feiern können.

Alles in Allem lässt sich auf die westdeutsche Nachkriegsproduktion in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre bis zum Ausbruch des Oberhausener Manifests tatsächlich jener Satz anwenden, den der Filmpublizist Joe Hembus 1961 damals pamphletisch und ironisch im Titel seiner Buchpublikation anwendete: "Der deutsche Film kann gar nicht besser sein!" -- Joe Hembus hatte wirklich recht! Nur leider ganz anders als er sich das damals dachte. Bei einer Betrachtung mit 50 Jahren Abstand entfällt sowohl die pamphletische wie auch die ironische Dimension seiner Aussage. Was bleibt ist die Grabrede eines Verlustes an künstlerisch-handwerklicher Qualität und ist damit zugleich Analyse eines heutigen Defizits, vor allem auf dem Gebiet der theaterpraxis-erprobten Charakter-Darsteller, die noch dazu eine Stimme hatten.

Auf jeden Fall lohnt diese Epoche der deutschen Filmgeschichte im internationalen Kontext einen neuen und vorurteilslosen Blick ohne Denkschablonen und Scheuklappen des tradierten Filmpublizistik-Kanons. Wenn plötzlich die Gralshüter vermeintlich hehrer Filmkunst nach jahrzehntelanger Verachtung das epische Kino des 70-mm-Filmformats für sich entdecken, dann darf man wohl auch in die gegenläufige Richtung gehen und "Ur-Opas-Kino" sich nochmals genauer unter die Leinwand-Lupe nehmen und neu für sich entdecken. Wieviel vom so genannten Neuen Deutschen Film der späten 1960er- bis zur Mitte der 1980er-Jahre als Wiederentdeckung lohnen wird, darf getrost die Zukunft entscheiden. Ob man dann allerdings noch Straub/Huillet mit ihrem Gesamtwerk im engeren Sinne zum Neuen Deutschen Film rechnen wird können, darf ebenfalls stark bezweifelt werden.


[Symbolische Darstellung der Zeitqualität vom 28.07.1928, Stanley Kubricks Geburtstag, für New York City (NY, USA), 12 Uhr mittags Ortszeit. Die seit ca. dem Jahr 2000 entdeckten und archetypisch relevanten Planetoiden wie Eris, Sedna, Quaoar, Ixion, Orcus, MakeMake, Haumea etc. sind bereits einbezogen. Farbschema nach Thomas Ring.]

IX. Trabanten in der Stratosphäre nehmen Schwung mit Fliehkraft auf

Die scheinbare Schwerelosigkeit an Bord von Raumschiffen in Erdumlaufbahn ist ein Produkt der gegenseitigen Aufhebung der Gravitationskraft und der auf Umlaufbahnen vorherrschenden Fliehkräften. In genau berechneten Umlaufbahnen kann damit auch Schwung genommen werden, um der nach unten ziehenden Schwerkraft entfliehen zu können und so aufweite Reisen durch Raum und Zeit zu gelangen. Kein kursorischer Blick auf die Filmgeschichte der 1950er- und 1960er-Jahre ohne Kubrick. Bis zur Ankunft in der Zukunft von '2001' war es im hier interessierenen Zeitraum von 1959/1962 noch gut eine Dekade, aber das Samenkorn einer auch inhaltlichen Beschäftigung mit Raum und Zeit wurde bereits im Sommer 1960 gelegt, als Kubrick Colin Low und seinem Kurzfilm 'Universe' als NFB-Produktion aus Kanada begegnete, der mit Co-Regisseur Roman Kroiter 1961 eine Nominierung als Bester Kurzfilm der American Academy erhielt. Interessanterweise wird Kubrick bei '2001' die Illusion von vorhandener Fliehkraft als virtueller Erzeugung von nicht mehr vorhandener Schwerkraft mittels einer motorischen Zentrifuge unter Schwerkraftbedingungen darstellen, was eine hübsche Verdrehung ist.

Im Zeitraum von 1959 bis 1962 nimmt Kubrick nach 'Paths of Glory' von 1957 und vor 'Dr. Strangelove' von 1964 mit 'Lolita' im Jahr 1962 jenen Schwung auf, um als unabhängiger Weltenschöpfer des Kinos zu den raumzeitliche Reisen in die Zukunft ('2001', 1968), die Vergangenheit ('Barry Lyndon', 1975) und die unmittelbar bevorstehende Gegenwart ('A Clockwork Orange', 1972) aufzubrechen. Die sich von 1959 bis 1962 aufbauende Weltkrise im Kalten Krieg wird 'Dr. Strangelove' 1964 in ein befreiendes Lachen ummünzen können und den Startschuss für die weiteren, kulturellen Befreiungsvorgänge der 1960er-Jahre geben.

Die Einberufung von Kubrick durch Kirk Douglas als Regisseur von 'Spartacus' im Februar 1959 bringt dem gerade mal 30-jährigen Wunderkind im Sinne des amerikanischen Germanizismus jene entscheidende Erfahrung, wie man sowohl Teil des allumfassenden Kinokosmos der derzeit herrschenden ökonomischen Produktion- und Distributionsformen bleiben kann, als auch eben genau darin seine Unabhängigkeit verwirklichen kann -- später gerade eben wegen jenes Abhebens von der Masse als Markenprodukt Teil der Konsumgesellschaft zu werden. Dies ist der eigentliche Vorgang des Schwungnehmens durch Umkreisung, den Kubrick 1959/1960 recht intensiv durchlebt, neben der Tatsache, dass 'Spartacus' seine erste Großproduktion als Regisseur wird. Er wird bis zu seinem Tod 1999 von dieser Erfahrung als Ankerpunkt gerade bei der eigenen Ablehnung des Erlebten und Bewirkten aus diesem Werkabschnitt profitieren.

Dieses Changieren zwischen Mainstream, Außenseiter und eigener Herr klingt bekannt; nicht nur das haben -- bei allen Unterschieden -- Preminger und Kubrick gemeinsam. Die familiäre Abstammung liegt in beiden Familien in der k.u.k. Wiener Einflußspähre und ihrem Kulturraum: bei Preminger in Richtung Polen/Ukraine/Galizien; bei Kubrick in Richtung Rumänien/Ungarn. Kein Wunder, dass Kubrick am Ende seines Lebens die Mischung aus Schnitzler und New York City in 'Eye Wide Shut' (1999) als seinen besten Film bezeichnet hat. Er war als nach UK immigrierter Amerikaner in seiner Heimat angekommen.

Von allen Marotten, die Kubrick angeblich gehabt hat, ihm zwecks besserer Vermarktung angedichtet wurden oder frei erfunden waren, halte ich seine Arbeitsmethode, Filmschauspieler während der Dreharbeiten an dialogarmen Szenen mit Musik vollzupumpen für die Wirksamste und Lehrreichste. Es galt das Primat des Textes zur Verstellung aufzulösen und durch eine theatrale Versuchsanordnung der offenen und prioritären Proben-Improvisation abzulösen, die insoweit ergebnisoffen war, als dass sie das Drehbuch als Masterplan modifizieren durfte. Statt also einen Stoff zu dozieren, galt es, ein in sich konsistentes Universum zu schaffen. Bei 'Spartacus' hatte Kubrick gelernt, wie starke Schauspieler vom Range eines Olivier, Ustinov und Laughton einem raumzeitlichen Filmkosmos besondere Tiefe und erhellend erleuchtende Bedeutung geben können, sofern man ihnen im Probenprozess ausreichend Raum und Zeit gibt, in dialogischer Auseinandersetzung ihre ausdifferenzierte Gestalt statt lediglich nur einer Figur entwickeln zu können. Im TIME Magazine sagte Kubrick am 15.12.1975 anlässlich 'Barry Lyndon':

"The essence of dramatic form," says Kubrick, "is to let an idea come over people without its being plainly stated. When you say something directly, it is simply not as potent as it is when you allow people to discover it for themselves."


Um dieses selbstgenügsame Universum als Werk zu erreichen, benötigt es eine exakte Bahnberechnung, die erst jene Bahnabweichungen eines improvisierten Probenbetriebs abfangen konnte, um damit zu noch kunstvolleren Bewegungslinien der Kinematographie zu führen. Für dieses Oszillieren zwischen Freiheit und Zwangslauf ist Recherche, Planung, Pedanterie und Perfektion notwendig. Die Verlangsamung der linearen Zeit im Probenprozess und später in der Kinodramaturgie trägt zu einer weiteren Befreiung von Zeit- und Raumhaftigkeit bei, zu jener in Kubrick-Filmen erfahrbaren, eigentümlichen Art von Schwerelosigkeit.

Man kann sich die von den Hauptdarstellern berichtete Proben-Intensität bei 'Clockwork Orange' oder 'Eyes Wide Shut' gut vorstellen; während "Führung" bei Preminger oft einschüchterndes Brüllen zur Erzielung einer verstärkten emotionalen Leindwandpräsenz bedeutete, führte Kubrick durch den Zwang zur Wiederholung, notfalls unter der lauten Musikdusche zum Durchbruch durch die Lähmung des Pedantischen hindurch. Für beides muß man ein entsprechendes Nervenkostüm an Standfestigkeit mitbringen, wahrscheinlich auch die entsprechende Portion feuriger Intuition (siehe Radix-Zeichnung oben).

'Spartacus' als Super Technirama 70-Produktion der Bryna Productions von Kirk Douglas zeigte recht deutlich die Grenzen wie auch die Möglichkeiten "linker Hollywoodproduktionen" in den ausgehenden 1950er-Jahren seit der Bryna-Produktion 'The Indian Fighter' (1955) in CinemaScope. Das Thema eines Aufstands der Unterdrückten gegen die Unterdrückung und die Unterdrücker mit einem noch auf der schwarzen Liste McCarthys stehenden Drehbuchschreiber führte zu inhaltlichen-dramaturgischen Kompromissen, die Kubrick als ausführenden Auftragsregisseur mit seinem Anspruch an Authentizität weh getan haben dürften. Die zeitbedingten politischen Auseinandersetzungen um Zensur, Kürzung und Aussagen verdeckten auch noch in den Essays von Duncan L. Cooper die Frage, inwieweit 'Spartacus' rund elf Monate nach 'Ben Hur' auch als Versuch einer Antithese auf das Amerikanische Drama um Wahrheit und Lüge, um überzeugtes Bekenntnis und falsche Bigotterie, um Aufrichtigkeit und Heuchelei gesehen werden darf, ein Drama dass für die zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr zu einem Trauma werden wird.


X. Sahnetorten und ausgewogene Ernährung

Wie die Tendenz dieses kursorischen Husarenritts durch den Kino-Zeitraum von 1959 bis 1962 bereits andeutet, bin ich kein Fan von Sahnetorten-Festivals, bei denen es als emotional-sinnliches Futter nur Sahnetorten und nur Kuchentheken gibt. Festivals von Filmen in epischen Breitwandformaten haben als kuratorischen Übung für mich nur dann Sinn, wenn sie das Nachtischhafte und Kaffeetischgekränzte nicht zur absoluten Norm erheben. Ausgewogene Ernährung im Kino des Historischen bedeutet die gesamte Nahrungskette verwandelt in verdaulichen Menüs zum Ausdurck zu bringen. Dafür sollte dieser Essay ein streitbares und ob seiner Auslassungen leicht ergänzbares Werkmenü, eine Filmliste anbieten. Von "Filmkanon" jener Kinozeit -- wenn man ihn denn anstrebt -- sind wird aber damit noch sehr weit entfernt. Interesse und Spass hätte ich allerdings schon, "Das Jahr 1959" in einem dann neuen "Kinomuseum Berlin" kuratieren zu dürfen.



ATRIUM
Bildquellen: de.wikipedia.org, en.wikipedia.org, amazon.com, amazon.de/KinoWelt, kairon/JP, ADOX.de, DuArt Film Labs, MGM Studios, Columbia Pictures, Universal Pictures, ozcamera.com, AMPEX Inc.

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