Sonntag, 8. März 2009

1929 - 1949 - 1969 - 1989 - 2009: 80 Jahre Tonfilm in 20-Jahres-Schritten

Obwohl die Premiere von "The Jazz Singer" bekanntlich am 6. Oktober 1927 in New York City statt fand, und damit 1927 eigentlich als das "Durchbruchjahr des Tonfilms" (zumindest in den USA) gilt, wurde "Der Jazzsänger" nach enormem rechtlichen Hickhack inklusive diverser Einstweiliger Verfügungen im weltweiten "Tonfilmkrieg" schließlich erst am 26.11.1929 im Berliner Gloria-Palast erstmals in Deutschland aufgeführt. Zuvor hatte bereits das Nachfolgevehikel für Al Jolson "The Singing Fool" (US-Premiere am 19.09.1928) am 3. Juni 1929 und ebenfalls nach reichlichem Einsatz von verzögernden Rechtsmitteln im Berlin Gloria-Palast seine Deutschland-Premiere. Am 09.09.1929 wurde Hitchcocks "Blackmail" im Berliner Kino "Universum" (nach dem 2. Weltkrieg dann "Capitol" genannt, heute Schaubühne am Lehniner Platz) auch in Tonfilmfassung gezeigt, zuvor lief am 12.06.1929 im Ufa-Palast am Zoo Frank Capras "Submarine" an. 1929 gilt als das Durchbruchjahr des Tonfilms in Deutschland, das am 09.01.1929 bereits mit dem "Paukenschlag" von "Wings" begann.

Wir dürfen uns hierzulande also im 80. Jahr des Durchbruchs des Tonfilms wähnen.
Herzlichen Glückwunsch an alle Tonfilm-Freunde!

Die Tageschronologie der Ereignisse des "Deutschen Tonfilm-Jahres 1929" hat Jeanpaul Goergen als Timeline in "Weltwunder der Kinematographpie 6.2002" detailliert zusammengefasst. Wer sich in die extrem verstrickten und komplizierten Markt-Verstrickungen, Rechts-Verwicklungen und Technik-Entwicklungen in Sachen technischer Erfinder, internationalem Patent-Recht und bereits damals globalisiert denkenden Elektrokonzernen vertiefen will, sei auf die drei maßgeblichen deutschen Buchveröffentlichungen zum Thema verwiesen: Einmal - sehr verkürzt formuliert - der mediale Abdruck des sich bereits durchgesetzt habenden Radios ins Kino hinein bei "Das Ringen um den Tonfilm" von Wolfgang Mühl-Benninghaus (zur Zeit vergriffen); dann der Überbbau des Patentrechts gegenüber vor sich hin tüftelnden Erfindern bei "Die Entstehung des Tonfilms" von Harald Jossé (lieferbar) und schließlich der Versuch, den Wandel vom Stummfilm zum Tonfilm mit dem derzeitigen Umstieg des Filmkinos in Richtung Digitalisierung des Kinos seit etwa 1995 zu parallelisieren in "Aufstieg und Untergang des Tonfilms" als Sammelband diverser Autoren der Publikationsreihe "Weltwunder der Kinematographpie" in Band 6.2002 (siehe Cover-Abb. in der linken Spalte). Dort finden sich auch zwei Einzeldarstellungen zu Lichtton und Magnetton in ihrer Bedeutung für das Kino.

Mein tschechischer Forscherkollege Petr Szczepanik, Professor an der Universität Brno, hat mir in diversen Gesprächen zu der in WdK6 behaupteten These eines parallelisierbaren Wandels in einer Gleichung: "Wandel Stummfilm/Tonfilm wie Wandel Filmkino/DigitalCinema" deutlich widersprochen: Es sieht die Parallele des Medienübergangs eher bei "Wandel Filmkino/DigitalCinema wie Wandel Grautonmodulation/Farbfilm": graduell-langsamer Verlauf statt plötzlicher, kolossaler Implosion.

Dass schließlich nicht nur die einstige Einführung des Tonfilms ein unglaubliches Hickhack war, sondern es sich bei der Einführung der Digitalen Projektion ins Kino auch jetzt, hier und heute -- seit dem Zeitpunkt, als ich die ersten 2K-Projektoren aus den Forschungslaboren im November 1996 zum Shootout in die Karlsruher Stadthalle einladen durfte -- erneut um retardierende Fragen zu Patenten, inkompatiblen Technologien und Geschacher um Lizenzerlöse handelt, da sich nunmehr verspätet und in 2002 noch gänzlich unvermutet die 3-D-Verfahren als eigentlicher Motor der Umstellungsdynamik offenbaren...
...dieser unverhoffte Zustand erfüllt mich mit meiner damaligen These doch mit gewisser Freude. Es mag sich viel verzögert haben, aber einiges ist 8 Jahre nach der Veröffentlichung des Buchbandes (= 1/10 Tonfilmzeit!) doch sehr gleich geblieben, allem DCI zum Trotz:

Die Umstellung mag fast so lange gedauert haben, wie die Umstellung von s/w zu Farbe; die Komplexität dieses Mediensystemwechsels ähnelt sich jetzt jedoch frappant jener vor etwa 80 Jahren, zumal sich die bisher hemmende Grundfrage "Wer zahlt's obwohl man's nicht unbedingt braucht" jetzt eindeutig in die Richtung verschiebt: "Der zahlt, der's braucht."

Auch beim Tonfilm gab es einen langen zeitlichen Vorlauf der technischen Entwicklung: seit 1894 durch das erste Tonfilmexperiment überhaupt (Dickson Experimental Sound Film), 1903 bei Messters Tonbildern, 1906 durch die Elektronenröhre (Verstärkerröhre/Triode durch von Lieben und de Forrest) und schließlich 1922 durch den in Deutschland nicht aus den Köpfen zu bekommenden Mythos von Triergon, wonach dieses Tüftler-Trio aus vom Markt verkannten Genies bestünde und die Geburtsstunde des Tonfilms in Deutschland angeblich auf 1922 zu datieren sei. Maßgeblich einer in der Realwelt verankerten Technik ist immer die Marktdurchsetzung -- und die fand in Deutschland im Jahre 1929 statt und dann auch noch überwiegend in dem später als Sackgasse erkannten Verfahrenszweig des Nadeltons.

Es spricht daher also einiges dafür, dass der rasche Wechsel von Filmkino zu DigitalCinema demnächst doch noch von statten geht, so wie auch der damalige Wandel binnen zwei Jahren von stumm auf tönend; dem Gedrön des Radios dürfte nunmehr das Geblitzer der heimischen Großdisplays und Beamer entsprechen. Wieweit damit dieser neue Technologiewandel des Kinos allerdings noch eine "raumschaffende Maßnahme" zum Erhalt der öffentlichen Institution Kino sein wird (bei rasch dahinschmelzender Technikführerschaft in Sachen 3-D) steht dahin. Krisenzeiten galten als Boomjahre des Kinos; eine Vergnügungsform, die damals im Gegensatz zu heute jedoch verhältnismäßig (gemessen an der Kaufkraft) geringe Eintrittsgelder verlangen konnte, verlangt hat.

Wenn ich persönlich also eine perspektivische Prognose auf dem Rücken dieser langen, 80 Jahre umfassenden Geschichte des "Tonfilmkinos" wagen würde, dann eher die, dass ein Kino-Eintritt bald künftig wohl eher 50 Kreuzer als 50.000 Schillinge kosten sollte, kosten wird. Bitte dabei bedenken: Amerika kennt geschichtlich noch keine Hyperinflation! Das Kino von morgen wird also ein "Armes Kino" sein müssen im Sinne von Jerzy Grotowski und ein "Leerer Raum" im Sinne von Peter Brook: offen für vieles und nicht weit entfernt vom Konzept der "Black Box". Das ist das Gegenteil jener "Sahnetorten-Reminenszenz", die derzeit virulent geworden ist (70-mm-Revivals in jeder größeren Provinzstadt; gestern Nacht zwischen 3 und 5 h der Rozsa-Soundtrack von "El Cid" im DLF etc.), damals wie heute ein Vorbote für drastische Veränderungen.

Wer sich in die Nadeltonepoche gerne einhören und einfühlen möchte, dem sei Warners DVD-Edition von "The Jazz Singer" in den USA auf drei Silberscheiben inkl. der Dokumentation "The Dawn of Sound: How the Movies learned to Talk" sowie zusätzlich 3,5-Stunden an Vitaphone-Kurzfilmen sehr ans Herz gelegt. Eine reduzierte 2-Disc-DVD-Version des DVD-Titels gibt es bei amazon.de

One last thing: Die Reihung der 20-Jahres-Intervalle:
1909 (erster Farbfilm) - 1929 (Tonfilm) - 1949 (BRD-DM) - 1969 (Mondlandung) - 1989 (Mauerfall) - 2009 (jetzt!)
finde ich übrigens bedeutend angenehmer als die 20-Jahres-Reihung:
1919 - 1939 - 1959 - 1979 - 1999 - 2019.

Ein Treppenwitz der Geschichte wäre es zumindest, wenn im Abstand von genau 80 Jahren die beiden ökonomischen Zäsur-Jahre 1929 und 2009 nun nicht nur als die "Positionslichter" des Kinowandels in die Geschichte eingingen, sondern gleichsam auch als "Wetterfahne" auf politischen Windwechsel hindeuteten. Ängstlichen Naturen sei hingegen versichert, dass sich Geschichte stets nur als Farce wiederholt, wie man es beim Wandel des Filmstreifenkino zum DigitalCinema eben jetzt gerade hautnah erleben kann.

ATRIUM

Bildquelle: Warner Bros.

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