Sonntag, 4. März 2012

Die Kanonisierung einer Wortkanone: 50 Jahre Oberhausener Manifest



50. Jahrestag des "Oberhausener Manifests"

Offizielle Website URL zum Jubiläum:
http://www.oberhausener-manifest.com

Dortiges Verzeichnis der Medienveröffentlichungen zum Jubiläum:
http://www.oberhausener-manifest.com/manifest-in-den-medien/

Insbesondere:
http://www.tagesspiegel.de/kultur/film-die-freiheit-die-sie-meinten/6256438.html
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2012%2F02%2F25%2Fa0041&cHash=24a120fd18
http://www1.wdr.de/themen/kultur/oberhausenermanifest100.html
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1688839/
http://www.welt.de/print/welt_kompakt/kultur/article13896489/Es-ist-Zeit-fuer-ein-neues-Manifest.html

Wenn man den Pressespiegel zum 50. Jahrestag des Oberhausener Manifests auswertet und zumal den Gregor-Text im Tagesspiegel kritisch gegenbürstet, dann sollte man sich vergegenwärtigen, dass an der hier weiter betriebenen Kanonisierung (d.h., der Bestätigung des bereits Bekannten und Festgestellten) auch wesentlich der Umstand beteiligt ist, dass wichtige Protagonisten wie Kluge, Reitz, Gregor und Patalas noch (Gott sei dank) unter uns sind, allesamt um die oder über 80 Lebensjahre alt -- und heute rückblickend auf 50 Jahre westdeutsche Kultur-Nachkriegsgeschichte noch persönlich, biographisch und authentisch Zeugnis ablegen können.

Was durch diese Kanonisierung allerdings unter den Tisch geworfen wird, ist die Tatsache, dass das westdeutsche Kino der 1950er- und 1960er-Jahre nicht so ausschließlich und hermetisch "Heimatfilm"- & "Schnulzen"-monopolistisch war, wie es die Beteiligten, die damals den Markt an Förderungen für Autorenfilme aufrollten, es gerne gehabt hätten und es heute noch so gerne hätten, wenn man deren derzeitigen Verlautbarungen folgt. — Gerade die Programme des Berliner Zeughaus-Kinos belegen in den letzten Jahren, wie vielschichtig, ästhetisch anspruchsvoll und auch kritisch die westdeutsche Spielfilmproduktion in diesem Zeitabschnitt AUCH gewesen war. Und damit sind nicht nur die Filme von Georg Tressler gemeint. Die Auflistung dieser Pluralität im Historischen widerspricht der subjektiven Wahrnehmung der damaligen Zeit, die im Jubiläumsjahr nach oben an die Oberfläche wieder drängt, anscheinend diametral.

Mithin waren die "Obermünchhausener" vielmehr Teil einer damals umfassend einsetzenden Auseinandersetzung der Söhne mit ihren Vätern, die dann in den Studentenprotesten der 60er-Jahre jene Lebensstilrevolution herbeiführte, die in den 70ern kulturell sozialisiert und distribuiert wurde, dann auch auf dem Gebiet der Spielfilmproduktion und ihrer Widerspiegelung im westdeutschen Feuilleton sichtbar und für eine kurze Zeit in der Symbiose aus internationaler Festivalpräsenz und nationaler Publizistik auch fruchtbar wurde.

Interessant insgesamt dann doch das neue Fassbinder-Bashing z.B. durch Berling (in seinem Biographie-Roman), aber auch letztens durch Kluge (beim 80.) und - man staunte - durch Ballhaus (im ZDF-Nachtstudio zur Berlinale). Das ist insofern von Relevanz, als der Tod Fassbinders 1982 als das offizielle Ende des Jungen Deutschen Films gilt, der mit dem Oberhausener Manifest seinen Geburtstag terminierte.

Wieviel insgesamt vom "Jungen Deutschen Film" also auch in Wiederausgrabungen nach 30 bis 40 Jahren noch für wertvoll und wieder-ansehnlich gehalten wird, dürfte nicht viel sein. Gregors Bemerkung zum Wert einer Wiederausgrabung und Neuvorstellung der Kurzfilme, zeitlich um das Oberhausener Manifest herum, spricht da nicht dagegen. Es mag sein, dass sich in den frühen Experimentalfilmen eher Klassikergefühle einstellen mögen als danach, zumal ja jedem Anfang ein Zauber innewohnt und Susan Sontags Diktum, dass sich alles alte Fotografische in nostalgische Gefühle (und damit in Kunst) verwandelt, eben auch die etwas seltsamen Alltagsrezeptionen des Neuen Deutschen Films der damaligen Zeit zunehmend mit einschließt.

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Update 16.03.2012:
Das Berliner Zeughaus-Kino legt aus aktuellem Anlass nach und zeigt im April 2012 mehr und wieder einen Programmblock zum Thema "Papas Kino" am Ende der 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre:
http://www.dhm.de/kino/papas_kino_2012_april_mai.html

Zitat des Einleitungstextes aus der Programmankündigung:
"Am 28. Februar 1962 verlas der Regisseur Ferdinand Khittl in einer Pressekonferenz der 8. Westdeutschen Kurzfilmtage eine Erklärung, in der der Anspruch erhoben wurde, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen, und die mit den Sätzen endete: "Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen". Die von der Presse als "Oberhausener Gruppe" bezeichneten Unterzeichner des Manifests hatten ihr Pressegespräch unter den Titel "Papas Kino ist tot!" gestellt, denn für die beabsichtigte Erneuerung des westdeutschen Films glaubte die Gruppe in der Generation ihrer Väter keine Vorbilder und Mitstreiter ausfindig machen zu können. "Papas Kino", das war das herkömmliche, veraltete, eskapistische und anspruchslose Kino, das Kino der Langeweiler und Routiniers. Anlässlich des 50. Jahrestags der Unterzeichnung des Oberhausener Manifests unterzieht die Reihe PAPAS KINO? das westdeutsche Kino am Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre einer Prüfung. Handelt es sich wirklich um ein Kino der Uninspirierten und Unengagierten? Fanden sich unter den "Alten" tatsächlich keine Filmkünstler, die hätten helfen können, den "Jungen deutschen Film" aus der Taufe zu heben? Fehlte dem deutschen Kino jeglicher frische Wind? War Papas Kino tot?"

Filmliste:
• Flucht nach Berlin

BRD 1960, R/B/P/Sch: Will Tremper, K: Günter Haase, Gerd von Bonin, D: Christian Doermer, Susanne Korda, Narciss Sokatscheff, 104' 35 mm
• Nasser Asphalt

BRD 1958, R: Frank Wysbar, P: Wenzel Lüdecke, B: Will Tremper, K: Helmut Ashley, D: Horst Buchholz, Martin Held, Maria Perschy, Gert Fröbe, 88' 35 mm
• Das Totenschiff

BRD/MEX 1959, R: Georg Tressler, B: nach dem Roman von B. Traven, K: Heinz Pehlke, D: Horst Buchholz, Mario Adorf, Helmut Schmid, Elke Sommer, 98' 35 mm
• Mein Vater, der Schauspieler

BRD 1956, R: Robert Siodmak, P: Artur Brauner, K: Kurt Hasse, D: O.W. Fischer, Hilde Krahl, Oliver Grimm, 106' 35 mm
• Am Tag als der Regen kam
BRD 1959, R: Gerd Oswald, P: Artur Brauner, B: Heinz Oskar Wuttig, Gerd Oswald, Will Berthold, K: Karl Löb, M: Martin Böttcher, D: Mario Adorf, Christian Wolff, Gerd Fröbe, Corny Collins, Elke Sommer, 89' 35 mm
• Die Zeit der Schuldlosen
BRD 1964, R: Thomas Fantl, B: T. Fantl nach dem Theaterstück von Siegfried Lenz, P: Peter Carsten, K: Georg Krause, D: Erik Schumann, Peter Pasetti, Wolfgang Kieling, 95' 35 mm
• Herrenpartie
BRD/YU 1964, R: Wolfgang Staudte, B: Werner Jörg Lüddecke, D: Hans Nielsen, Götz George, Gerlach Fiedler, Rudolf Platte, 92' 35 mm
• Warum sind sie gegen uns?
BRD 1958, R: Bernhard Wicki, B: Kurt Joachim Fischer, K: Gerd von Bonin, D: Ingrid Resch, Thomas Braut, 64' 35 mm
• Die Halbstarken
BRD 1956, R: Georg Tressler, P: Wenzel Lüdecke, B: Will Tremper, K: Heinz Pehlke, D: Horst Buchholz, Karin Baal, Christian Doermer, 97' 35 mm
•Die Rote / La rossa
BRD/I 1962, R: Helmut Käutner, B: Helmut Käutner nach dem Roman Die Rote (1960) von Alfred Andersch, K: Otello Martelli, D: Ruth Leuwerik, Rossano Brazzi, Gert Fröbe, Harry Meyen, Giorgio Albertazzi, 94' 35 mm
• München – Tagebuch eines Studenten
BRD 1962, R/B: Roland Klick, Rolf G. Schünzel, Jochen Cerhak, P: Rolf G. Schünzel, K/Sch: Roland Klick, 60' 16 mm
• Nachts, wenn der Teufel kam
BRD 1957, R: Robert Siodmak, B: Werner Jörg Lüddecke nach einem Illustriertenroman von Will Berthold, K: Georg Krause, D: Mario Adorf, Claus Holm, Hannes Messemer, Peter Carsten, 99' 35 mm
• Himmel ohne Sterne
BRD 1955, R/B: Helmut Käutner, P: Harald Braun, K: Kurt Haase, D: Erik Schumann, Eva Kotthaus, Georg Thomalla, Horst Buchholz, 108' 35 mm

• Das Wunder des Malachias
 (Reihe Wiederentdeckt)
BRD 1961, R: Bernhard Wicki, D: Horst Bollmann, Karin Hübner, Günter Pfitzmann, Brigitte Grothum, Senta Berger, Loriot, 126' 35 mm


Ein Wiedersehen mit 'Skandal in der Botschaft'  R: Erik Ode
http://www.imdb.com/title/tt0042973/fullcredits
hätte ich mir ebenfalls gewünscht, gerade weil der Film von 1950 als Übergang von der direkten Nachkriegs- und Besatzungszeit in die bundesrepublikanische Filmproduktion Scharniercharakter zeigt.

Weitere Filmtitel zum Thema siehe unter
http://kinoberlin.blogspot.com/2009/05/1959-eine-reise-zum-gravitations.html
in meinem Blogbeitrag:
"1959: Eine Reise zum Gravitations-Mittelpunkt des Kinos"
in Kapitel VIII. "Lufthohheit über Westdeutschland"

Der Münchener Film-Historiker Hans Schmid hat zudem kürzlich zwei höchst interessante Beiträge bei Telepolis zum "Subversiven Arztfilm der 1950er-Jahre" veröffentlicht:
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36114/1.html
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36115/1.html
unter besonderer Berücksichtigung von 'Der Verlorene', 'Arzt ohne Gewissen' und 'Des Satans nackte Sklavin' (aka 'Die Nackte und der Satan') als Gegenströmung zu 'Dr. Holl', 'Sauerbruch', 'El Hakim' oder 'Der Arzt von Stalingrad' sowie mit einem Hinweis zum "filmischen Vorleben" des Produzenten Wolf C. Hartwig mit dem Leiser-"Mein-Kampf"-Kompilations-Vorläufer 'Bis 5 nach 12'.

Es gibt in "Papas Kino" unserer Großväter und Ur-Großväter viel zu entdecken, wenn man sich nur über die Kanonisierung unserer Geschichtsschreibung hinweg setzt.

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