Mit dem Linien-Omnibus der Eisenbahn von Prag nach Stuttgart
von Joachim Polzer
Es ist natürlich mein persönliches Pech, öfters von Prag nach Stuttgart
reisen zu müssen. In Prag forsche ich zum Thema "Medienrestaurierung" an
der dortigen Filmakademie; in Stutgart gilt es, den Testlauf des
Globians Dokumentarfilmfestivals im Linden-Museum als Kurator
vorzubereiten und durchzuführen. Prag und Stuttgart -- das sind zwei
spannende Städte: In Prag ereignete sich 1989 die "samtene Revolution"
gegen die sozialistische Staatsdiktatur; in Stuttgart kämpft man anno
2010 Schloßparkschlachten und in Volksaufstandsgröße nicht nur um die
Zukunft des Bahnverkehrs in der Stadt.
Zur Nazizeit war Stuttgart die "Stadt der Auslandsdeutschen", so das
damalige, offizielle Prädikat. Diesen NS-Stadt-Ehrentitel trug die Stadt
seit dem 27.August 1936, anlässlich der Einweihung des "Ehrenmals der
deutschen Leistung im Ausland" im Wilhelmspalast, dem letzten Wohnsitz
des württembergischen Königs, durch Adolf Hitler höchstpersönlich. Auf
der noch erhaltenen Gedenktafel am Eingangsportal des Linden-Museums von
1938 zu Ehren des Graf Karl Heinrich von Linden kann man die damalige
Präsenz dieses Stadt-Prädikats auch heute noch öffentlich nachlesen.
Interessanterweise war Stuttgart auch nach der Zäsur von 1945 weiterhin
die "Stadt der Auslandsdeutschen" geblieben, freilich anders als man
sich das im Fortlauf der Tradition von Exilschwaben seit dem 18.
Jahrhundert einst vorstellte: Man hatte das Prädikat defacto
beibehalten, als es nunmher darum ging, den immensen Zustrom nicht nur
an sudetendeutschen Flüchtlingen zu integrieren. Eine von vielen
bemerkenswerten Umdeutungen und Umkehrungen von Bedeutungen, denen man
in Stuttgart begegnen kann. Das macht die Stadt interessant.
Jedenfalls half dieser einstige Nachkriegsstrom an rückkehrenden
"Auslandsdeutschen" enorm, um mittels der zugezogenen Arbeitskräftebasis
nach den Kriegsverlusten die Grundlage für den immer noch anhaltenden
Wirtschaftsboom dieser Region zu legen. Dieser Zuzugsstrom an
"Migranten" sorgte freilich auch für jene Grundierungsschicht an
Multikulturalität, in denen die heutige Melange von Bürgern aus vielen
Kontinenten weitgehend friedlich miteinander leben kann. So vielen
asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Gesichtern begegnet man
auf keinem Stadtbummel durch Berliner oder Potsdamer Kieze. Es ist
gerade die erweiterte Pluralität im Spektrum dieser Multikulturalität,
die den hohen "Ausländeranteil" der Stadt erträglich und reizvoll macht
-- im krassen Kontrast zur "Blockkasten-Mentalität", die einem etwa aus
der kommerziellen Stuttgarter Stadt-Architektur seit den 1990er-Jahren
ästhetisch entgegen tritt. Freilich musste die Präsenz des Anderen sich
stets gegen das erhebliche Beharrungsvermögen der schwäbischen
Leitkultur durchsetzen, in dieser Landsmannschaft Fremdes assimilileren
zu müssen, sozusagen auf höherem, nicht-diskutablem Befehl, murrend, mit
viel sturer Ignoranz, aller Weltläufigkeit zum Trotz, auf Prosperität
bezogen.
Um vom Stadtprädikat der "Auslandsdeutschen" nach mehr als 70 Jahren bis
zum Etikett einer "Hauptstadt der Bürgerprotests" anzukommen, um sich so
gegen die angeblich repräsentative Bevollmächtigung politischer
Entscheidungen aufzulehnen, war ein weiter Weg zurückgelegt worden. Man
kann den Verlauf der politischen Kultur im übrigen auch an den Namen der
Ministerpräsidenten dieser Landeshauptstadt verorten: Kiesinger,
Filbinger, Späth, Teufel, Oettinger, Mappus. Stuttgart versteht man nur
in seiner geschichtlichen Dimension.
Diesen Text schreibe ich an Bord des "Expressbusses", den die Deutsche
Bahn AG für ihre Eisenbahnkunden von Prag nach Nürnberg auf der Strecke
von Prag nach Stuttgart anbietet. Die Strecke wird betrieben von einer
fränkischen Bustochter der DTAG; der tschechische Bus-Fahrer und die
tschechische Stewardess sind von einer Freundlichkeit und Gastlichkeit,
wie ich es in einem Zug der Deutschen Eisenbahn noch nie erlebt hatte.
Eine direkte Zugverbindung zwischen Prag und Stuttgart gibt es seit der
Abschaffung der Kurswagen-Verbindungen nicht mehr. Dieser Umstand hat
nun wieder mit meinem persönlichen Pech zu tun, ausgerechnet zwischen
Prag und Stuttgart mit dem öffentlichen Fernverkehr reisen zu wollen:
Flugzeug und Automobil finde ich für mich und die Strecke unpassend. Ich
fahre nun einmal gerne Eisenbahn. Und zwischen Stuttgart und Prag liegen
- zumindest noch - Schienen.
Die Eisenbahnverbindung zwischen Prag und Nürnberg hat der
DBAG-Konkurrent Arriva in München -- man möchte fast sagen --
ersteigert. Auf mehrfache Nachfrage bei meinem Verkaufsschalter der DBAG
nach einer Zugverbindung bekam ich zur Antwort, dass es überhaupt keine
Zugverbindung von Prag nach West- und Süddeutschland mehr gäbe. Man
möchte eben seine sechs täglichen Busverbindungen in jede Richtung voll
bekommen -- und bei so einer Tarifauskunft ist der Bahnexpressbus der
eigenen Reisebustochter eben auch kapazitätsmäßig gut ausgelastet. Die
Alexa-Zugabteile einer der beiden Arriva-Tagesverbingungen erschienen
mir am Bahnsteig des Bahnhofes bei der Abfahrt denn auch recht leer;
kein Wunder bei den Kampfpreisen, die die DBAG für Ihre Buskonkurrenz
"auffährt" und mit ihrer Vertriebsmacht im Markt. Das Ganze erscheint
mir wie eine Übungsaktion der DBAG, den inzwischen auch innerhalb von
Deutschland wieder freigegebenen Bus-Interstadt-Verkehr ebenfalls unter
die eigenen Fittiche zu bekommen. Es erinnert mich im Ürigen an die
Frühzeit des öffentlichen Verkehrs, als man für jede Straßenbahnlinie
einen eigenen Fahrschein kaufen musste und sich die Investoren
weigerten, den jeweiligen Straßenbahnlinien-Konkurrenten überhaupt zur
Kentnis zu nehmen, geschweige denn im Agenturverhältnis wechselseitig
Fahrkarten zu verkaufen. Es erinnert mich freilich auch an meine frühe
Berliner Zeit, als die Westberliner BVG dezidierte Parallel-Linien zu
"Ulbrichts-Stacheldraht-S-Bahn" betrieb.
Es mag ja sein, dass es bei den Planungen zu Stuttgart21
Rentabiltäts-Studien gibt, die belegen, dass in 20 Jahren unglaublich
viele Leute von Paris auf dem Schnellzugkorridor nach Preßburg reisen
müssen, um damit die 5 bis 10 Milliarden Euro oder noch mehr
Invesitionskosten für die Stuttgarter Tunnel und Neubaustrecken
refinanzieren zu können. Nur hilft mir das weder heute noch in zwanig
Jahren weiter. Die Geburtsstadt meiner Mutter mag touristisch bestimmt
interessant sein, es wäre mir mehr geholfen, wenn man die Schienen
zwischen Nürnberg und Pilsen bald so hinbekommen könnte, dass mehr als
zwei Zugpaare täglich darauf fahren können, so dass nicht nur die
DBAG-Konkurrenz, sondern auch die Deutsche Eisenbahn darauf fahren kann.
Kurz: Mir persönlich wäre es lieb, wenn S21 ein paar Milliaren Euro
billiger wäre und dann am Ende auch noch etwas Geld übrig wäre, um neue
Schienenstränge bei Cham oder Furth im Wald zu verlegen. Und wenn man
sechs Busladungen Menschen pro Tag pro Richtung voll bekommt, dann
dürfte es ja vielleicht auch nicht zu abwegig sein, wenn man fordert,
dass die Zukunft des Bahnverkehrs nicht nur ausschließlich in ICEs der
Generation Dreieinhalb liegen soll, sondern auch in einem
"Schienenbus"-Modell der Neuzeit: schnell und kompakt, statt für 1.000
Menschen eben für 100 pro Zugladung. Mir scheint, dass in Deutschland
vor allem die Zukunftsplanung der Eisenbahn von gestern ist, zu einer
Zeit, da in Amerika gerade die ersten Flugzeug-Auto-Convertibles
verkauft werden.
Mir wäre also eher gedient, wenn man überhaupt eine funktonierende
Bahnverbindung zwischen Stuttgart und Prag anbieten würde, ohne dass man
etwa in Nürnberg den Anschlußzug nach Stuttgart verpasst, zwei Stunden
zusätzlich dort warten muss, weil der Bus natürlich vollkommen
unerwartet im Prager Stadtverkehr im Stau steckenbleibt, da man dort
noch mehr Tunnel baut und Häuser zum Wanken und schließlich auch zum
Absacken bringt, als man sich in Stuttgart überhaupt vorstellen kann.
Die Fahrzeit des Expressbusses von Prag nach Nürnberg wird mit 3 3/4
Stunden beworben, nur damit man den Arriva-Rivalen und seinen Fahrplan
um eine Viertelstunde unterbieten kann. Die Reisenden nach Köln,
Stuttgart und München, die in Nürnberg umsteigen müssen, haben bei
solchen Expressverkehrstaktungen dann das Nachsehen.
Es gibt bei meinem persönlichen Reiseproblem noch ein paar Wendungen,
die ich als "hübsch" bezeichnen würde: Die Abfahrt des Expressbuses nach
Nürnberg in Prag geschieht unter ohrenbeteubenden Lärm, weil der
Abfahrtszusteig zum Bus direkt an der vierspurigen Stadtautobahn liegt,
die, wenn sie nicht lärmt, in einer Richtung oft verstopft ist; dann
stinkt es dort ziemlich nach Verbrennungsgasen. Der Prager Hauptbahnhof
ist durch seine Geschichte kein Busbahnhof; es gibt nur diesen einen,
kurzen Behelfszusteig an der Stadtautobahn und zwar nur für den
Linienbus zum Flughafen, der nun auch für den Linienbus nach Nürnberg
mitbenutzt wird. Anscheinend hatte die DBAG für so eine Ausnahmeregelung
ihre guten Kontake zur Tschechsichen Eisenbahn genutzt.
Der eigentliche Fernbus-Bahnhof in Prag liegt eine Metrostation weiter
im Norden. Das erinnerte mich wieder an Stuttgart, wo es am Hauptbahnhof
ja auch keinen Fernbus-Bahnhof mehr gibt. Die großen gelben und
beleuchteten Bussteig-Ziffern machten auf mich als Stuttgarter Kind
immer ganz besonderen Eindruck. Ich kann mir gut vorstellen, dass weder
deutsche Touristen in Prag noch tschechische oder sonstige Touristen in
Stuttgart ihre beiden neuen und sehr vom Hauptbahnhof entfernt gelegenen
Busbahnhöfe auf Abhieb finden werden. Insofern macht es in Prag Sinn,
den Ersatzbahn-Bus nach Nürnberg direkt und so nah wie möglich an die
Eisenbahn-Gleise zu binden, auch wenn man in Stuttgart beim Busbetrieb
anscheinend das Gegenteil betreibt.
Dieser winzige Prager Buszusteig an der Wilson-Straße ist für viele
Taxen und Busfahrer des Behelfsverkehrs denn auch sehr verlockend, um
ihn für ihre eigenen Zwecke zu verstopfen, weil der Prager Hauptbahnhof
durch diese vierspurige Stadtautobahn wirkt, als sei er von der Stadt,
in die er hinführen soll, wie abgeschnitten. Das führt dann zu als
waghalsig nur unzureichend zu beschreibenden Ausstiegsversuchen der
ankommenden Buspassagiere auf der Autobahnspur, sozusagen in zweiter
Autobahn-Reihe. Und so ein Deboarding steht wiederum im krassen Kontrast
zu den dreisprachigen Sicherheitshinweisen im Bus bei der Abfahrt.
Dreht man sich allerdings vor dem Prager Buseinstieg um 180 Grad und
betritt den Bahnhof sozusagen zu Fuß von der Stadtautobahn her, dann
steht man im alten Empfangsgebäude und der Schalterhalle des
Woodrow-Wilson-Bahnhofs, den der tschechische Architekt Josef Fanta
(1856 - 1954) entwarf, die zwischen 1901 und 1909 gebaut wurde und
unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 den Namen des
US-Präsidenten trug. Verständlich, dass er seit der deutschen Besatzung
nurmehr "Hauptbahnhof" hieß. Es ist wohl dem Funktionsverlust der
Fanta-Halle zu verdanken, dass er auch nach 1989 nicht mehr rückbenannt
wurde. Sollte S21 nicht gebaut werden, wäre die Umbennenung des
Bonatz-Gebäudes in Woodrow-Wilson-Bahnhof bestimmt eine gute Idee.
Denn diese Prager Bahnhofs-Kathedrale der Art-Deco-Zeit ist eine
touristische, eine architektur- und kunsthistorische Weltsensation des
Jugendstils der besonderen Art, recht versteckt im bestimmt nicht
besichtigungsarmen Prag. Als mein Vater 1926 in Olmütz geboren wurde,
wird er diese Schalterhalle vor Krieg und Flucht als Kind und
Jugendlicher in voller Funktion bei seinen Abstechern nach Prag erlebt
haben. Wäre er damals schon nach Stuttgart mit der Eisenbahn gefahren,
hätte er bei seiner Ankunft einen weiteren Bahnhofsneubau seiner Zeit
erlebt als faktisches Gegenmodell zu Prag. So verschieden die beiden
Gebäude sind, kann man heute doch an beiden Bauten studieren, dass die
Menschen vor knapp hundert Jahren überzeugt davon waren, dass sich in
Ankunft oder Abreise befindliche Menschenmassen vor allem nach
räumlicher Höhe sehnen, die ihnen ein bestimmtes Reisegefühl der zu
überwindenden Weite vermitteln sollte, vielleicht auch ein Gefühl der
Mächtigkeit jener öffentlichen Technik mitsamt einer mitschwingenden
Demut gegenüber jener Technik, derer sie sich bedienen.
Heute scheint die U-Bahn-Haltestelle eher das alles bestimmende Modell
des Weitverkehrs-Bahnhofs zu sein und als Vorbild für Neubauten von
Bahnhöfen zu dienen, dass also eine Weitenüberwindung durch die Reise
mit der Eisenbahn allenfalls noch als eine Angelegenheit des
Nahrverkehrs verstanden werden soll. So haben denn auch Fernreisezüge
unserer Zeit eher den Charme von U-Bahnen mit Bierausschank.
Angekommen in Stuttgart benutze ich tatsächlich die U-Bahn, die dort
Stadtbahn heißt, im Gegensatz zur S-Bahn. Stadtbahn ist die
spurverbreitete Straßenbahn auf Normalspur-Schienen, seit die
GT4-Triebwagen der Meterspur nur noch im neuen Straßenbahnmuseum stehen.
Weil die Stadtbahn unterirdisch oder getrennt vom Straßenverkehr fährt,
wird sie in Stuttgart "U" genannt, wobei "U" in Stuttgart nicht für
"unterirdisch" sondern für "unabhängig" steht. Hier liegen die Dinge
eben anders. Ich schaue mir die Groß-Baustelle im Stadtteil Killesberg
an: Dort standen einst die Ausstellungshallen der Stuttgarter Messe im
Eingangsbereich des Höhenparks Killesberg. Bis 1976 konnte man mit der
Straßenbahnlinie 10 auf Serpentinen zum Killesberg hochfahren. Danach
nur mit dem Bus. Am 19. April 1993 wurde am Killesberg die U7
eingeweiht, eine luxuriöse, unterirdische Stadtbahnstrecke mit
unterirdischem Endbahnhof "Killesberg - Messe". 1993 atmeten die
Messebetreiber auf, weil man nun in gut fünf Minuten vom Hauptbahnhof
per Schiene zur Messe kam. Am Eröffnungstag war allerdings schon klar,
dass die Messe bald zum Flughafen auf die Filder umziehen soll. Es
dauerte dann zwar noch elf Jahre, bis die neue Filder-Messe Baubeginn
feiern konnte. Doch jetzt sieht man dieser einstmals luxoriös gebauten
U-Endhaltestelle am Killesberg ihr ganzes Elend an: Gelegen zwischen der
Weißenhof-Siedlung, der Kunstakademie mit neuem
Medienrestaurierungs-Fachbereich, einer neuen, gigantischen
Altenheim-Anlage für Betuchte des deutschen Wirtschaftswunders, zwischen
den neuen, gerade im Bau befindlichen, Luxusapartments und dem
Theodor-Heuss-Museum sind mittlerweile die Rolltreppen dieses U-Bahnhofs
zum Teil dauerhaft mit Stahlblockaden stillgelegt; es sammelt sich dort
Müll. Die Funktion, die diesem U-Bahnhof zugedacht wurde und für die er
ursprünglich gebaut wurde, ist weitgehend verloren; er ist als Verlust
allenthalben spürbar, etwa so wie die beiden Endlos-Filmstreifen als
Decors an den Bahnsteigwänden von vergangenen Zeiten der
Analogfotografie mit Diafilmen Zeugnis ablegen. Die älteren Bewohner
der Weißenhofsiedlung und des Altenheims am Killesberg werden die Nähe
der noch funktionierenden Stadtbahn vor ihrer Tür freilich zu schätzen
wissen -- sofern sie sie noch benutzen. Jetzt will man wieder der neuen
Messe hinterher bauen, um für Stuttgart21 einen sehr langen Tunnel vom
unterirdischen Hauptbahnhof zum Flughafen und zur neu gebauten Messe auf
den Fildern zu legen.
Mir schwant, dass im Zeitalter des Online-Merkantislismus und der überrealen
3D-Konferenzschaltung nicht nur die "Messe" bald eine recht obsolete
Angelegenheit werden wird. Die Vorstellung, dass man 2030 -- also etwa
zehn Jahre nach der mutmaßlichen Fertigstellung von S21 -- noch mit
verbrennungsmotor-betriebenen Flugzeugen als Transportmittel in einer
Weise fliegen wird, wie es einem heute noch vertraut erscheint, als dass man
dafür Flughäfen unseres heutigen Zuschnitts noch benötigen dürfte,
erscheint mir immer weniger schlüssig. Der Schlüssel zur Lösung unseres
Zivilisationsproblems ist ein verändertes Verhältnis zur Größe. Alle
unsere gesellschaftlichen Probleme haben in Skalilerungen ihre Wurzel.
Das war der Kern des Denkens etwa von Leopold Kohr. Was Leopold Kohr
wohl zu Stuttgart21 gesagt hätte?
Selbst wenn Turm und Halle des Stuttgarter Bahnhofs die Bauarbeiten
überleben sollten, werden sie durch ihre Funktionsberaubung ähnlich
"tiefgefroren" wie die Fanta-Halle des Wilson-Bahnhofs in Prag oder der
nun einsame U-Bahnhof am Killesberg. In Prag jedenfalls spürt und sieht
man diesem Groß-Od des Jugendstils an, wie hier 100 Jahre Kultur des
Bahnreisens in Tiefschlaf versetzt wurden. Diese Schalterhalle im
Dornröschenschlaf ist heute genau so von seiner Empfangs- und
Verkaufs-Funktion und von seiner Stadtanbindung "abgehangen", wie
Stuttgart eisenbahntechnisch von der Hauptstadt der tschechischen
Republik insgesamt. Nicht nur in Stuttgart wird derzeit am Hauptbahnhof
gebaut; auch am Prager Hauptbahnhofs wird kräftig modernisiert. Der
bauliche Charme der Inneneinrichtung aus sozialistischer Zeit, die
Fußgängerzone unter der Stadtautobahn weichen nunmehr dem
internationalen Shopping-Charme des Reisens, den man auch von deutschen
Fernbahnhöfen bereits kennt. Bald wird alles in Stahl, Glas, Chrome und
Licht erstrahlen und viele international standardisierte Produkte
anbieten. Viel Hoffnung, dass einem dieser Art Reise-Charme auch in 100
Jahren noch so zurückstrahlt wie die Wandbemalungen, Figurinen,
Lampenschirme und die Typographie des Fantaschen Wilson-Bahnhofs habe
ich allerdings nicht.
+++
Joachim Polzer, geboren 1962 in Stuttgart, ist Medienhistoriker und
Kurator des Globians welt & kutlur Dokumentarfilm Festivals in Berlin
und Stuttgart. Er lebt in Potsdam.
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