Dienstag, 21. April 2009

Subventionen eines flügellahmen Roll-outs?

Ein zukunftseuphorischer Feuilleton-Artikel, diesmal von André Weikard im "Tagesspiegel" vom 17.4.2009 verfaßt, sinniert wieder einmal über eine "Nachrüstung" in der Film- und Kinotechnik, die diesmal aber eine fundamentale Umrüstung beschreibt: den sog. "Roll-out" digitaler Projektion, die das arteigene, bisherige Filmbandformat auf 3,5 cm breitem Transparentfilm ersetzt. "Roll-out" ist übrigens ein Begriff der Kriegsführung aus dem Zweiten Weltkrieg, obgleich erst Mitte der 1980er-Jahre im Zuge einer Nach-Nachrüstung schon einmal die Rede von "zutodegerüstet" war und das Ende einer alten Supermacht im Osten umschrieb, die sich dem Turbo-Kapitalismus verschlossen hatte. Eine "Globalisierung" der neuen Märkte und Digitalitäten (Multimedia-Manien und virtuelle Realitäten unendlichen Konsums) der verbleibenden Supermacht konnte sich hernach ohne Gegenentwehr verbreiten.

Schließlich wurden die "Marken" des Home Entertainment (Motto: "Kino war gestern") so stark, dass eine Reihe an Marketingstrategien und Produktzyklen der Home Cinema Technologie eine solche Rasanz erfuhr, dass die Theaterwirtschaft kaum noch Schritt mit ihr halten konnte und im Lancieren immer neuer Digitaltonverfahren schon als "Testlabor" für die lukrativere Heimkinogeschäfte umgemodelt wurde, wie etwa der Filmhistoriker John Belton anmerke.

Das neue Wunderwerk der DLP-Spiegeltechnik in der Marktdurchdringung von HDTV-Beamer-Wiedergabe (aber auch die neuen HD-"Kinokameras" seit Anfang dieses Jahrhunderts) können kaum mehr als eine ureigene Entwicklung der Filmindustrie, d.h. zur Etablierung arteigener und exklusiver Kinoformate angesehen werden, sondern als Vorposten des Home Cinemas und der Broadcast-Verwerter. Sodenn die DLP-Technologie bereits als Spin-off-Entwicklung der Strategic Defense Initiative der seinerzeit vorrüstenden US-Regierung der 1980er-Jahre gelten mußte, erschrickt jetzt das Ausmaß der Unterwerfung des Kinomarktes unter die Gesetzlichkeiten der materialosen Informationsübertragung nach Broadcast-Standards (welche geringfügig vom Interessenverband der Hersteller zur sog. DCI-Norm für die Kinowirtschaft modifiziert wurde, um das HDTV-Bild durch höhere Bitraten auch auf grösseren Leinwänden ohne die berüchtigten "Artefakte" übertragen zu können). Wie immer die Zukunft des Kinos nun aussehen mag — von dem einem Traum darf man getrost Abschied nehmen: von einer Vorreiterrolle der Kinos im Mahlstrom der Multimedia-Schwemme. Und das böse Wort des amerikanischen Kinofilmvorführers Paul Raython vom "Trojanischen Pferd", das mit dem Roll-out Einzug in die Kinos gehalten habe, ist es durchaus wert, aus der Interessenperspektive der einst dominanten Unterhaltungsform des 20. Jahrhunderts aus, d.h. der der kommerziellen Lichtspielhauskulturen, untersucht zu werden.

Zurück zur Subventionspolitik Berlins, in der der "Tagespiegel" eine Errettung der Kinos vor dem Abwandern des digitalen Contents in andere Vertriebskanäle zu sehen glaubt: Hier überbieten sich SPD und CDU derzeit gegenseitig, den darbenden und notleidenden Kinos eine digitale Spritze als Verjüngungskur zu verpassen, um deren "Wettbewerbsfähigkeit" zu sichern.

Vergessen ist, dass erst gestern noch durch die Bezirksregierungen ein gegenseitiges Überbieten in der Verhökerung hochwertiger Standorte an Kinokonzerne und Multiplexbetriebe stattgefunden hatte, denen fast ausnahmslos Bau- und Betriebsgenehmigungen erteilt wurden, gleichwohl schon Anfang der 1990er-Jahre klar war, dass sich mit der Verdopplung der Sitzplatzkapazitäten bis zur Jahrtausendwende auch ein Rückgang der Auslastung verbinden ließe. Insbesondere die Teilsubventionierung von einigen Sälen der Multiplexkinos am Potsdamer Platz, die im Interesse der Nebennutzung durch die Filmfestspiele ("Filmmesse") vom Steurzahler fertiggestellt wurden, richteten massiven Schaden sowohl in der traditionellen kommerziellen Kinomeile in der City-West und am Kufürstendamm (mit dem größten Kinofriedhof der Welt) als auch in den Bezirken und unter den Programm- und Szenekinos an.

Nach der Wende galt die neue City um den Potsdamer Platz allerdings als Prestigeprojekt der Vereinigungspolitiker Dr. Kohl und Dr. Hassemer, die somit ein ökonomisches und kulturelles Aushängeschild einer mitteileuropäischen Großmacht zu etablieren suchten: mit gravierenden Flurschäden in den Bezirken.

Somit verwundert, dass nach alledem 2009 der Glaube aufkommt, man könnte die wirtschaftlichen Eckdaten der gebeutelten Berliner Kinohäuser durch naives Wachstum verbessern, diesmal durch Umrüstungen zum Electronic Cinema frisieren.

Anstatt einer möglichen "Subvention zur Selbstabschafffung" also hätten deutsche Politiker rechtzeitig (die konservativ-schwarzen ebenso wie die sozialreformerischen) in ihrern Kinopolitik nach französischem oder norwegischem Vorbild verfahren sollen. Dies meint u.a. eine staatliche Begrenzung der US-Ware im Mainstream-Verleih Frankreichs eben so wie auf der anderen Seite die gesetzliche Verankerung des Wirtschaftsstatus der Kinos als "öffentliche Betriebe" unter Staatskontrolle wie in Norwegen an der Tagesordnung.

Es klingt sehr human, im einigen Kommunen Deutschlands weiterhin das Lied ungezügelt kleinst-privatwirtschaftlicher und künstlerischer Freiheit für die kleinen Ladenbetreiber zu trällern, während man schon zu Beginn der Kohl'schen "Spaßgesellschaft" den privaten TV-Gründungswahn von RTL bis SAT1 freie Hand ließ und eben so die öffentlichen Grundstücke (sie sollte eigentlich Volkseigentum sein) an "vereinigte" International-Cinema-Kinoketten (etwa zur erhofften "Belebung der Infrastruktur") freigab.

So groß der Schaden auch ist, so konnten sich immerhin in dieser Abwärtsspirale der Verscherbelung öffentlichen Tafelsilbers einige am Rande des Existenzminimums vegetierende Kintop-Stätten z.B. durch Kompensation der Verleihgarantieren sowie durch nachhaltige programmatische Grundversorung oder auch Gegenkulturen am Leben erhalten. Viele Vorortkinos wären ohne die künstlich geförderten 35mm-Zusatzkopien wirtschaftlich nicht aufrechtzuerhalten, hätte man nicht versucht, die Entartungen des freien Marktes durch Almosen der FFA-Einnahmen abzupolstern.

Jetzt steht die Wahlkampforderung der Agenda-2010-Partei SPD aus Berlin im Raume, die nach dem Einknicken vor Kino-Großketten, Großsendern und Potsdamer-Platz-Kinematheken den bezirklichen Niedergang durch wenig nachhaltigen Austausch der Bildwerfer abzuwenden hoffen, in dem den "Independents" ein vermeintlich freier Zugang zum Kuchen der DCI-Konzerne verschafft werde — obwohl das Interesse großer Major Companies und die in ihrer Vertriebspolitik Ausdruck findenden DCI-Welle ja gerade die Abschaffung angeblich zu träger Spielstätten und zu langer Auswertungszeiträume ist!

Die Subventionswerbung der SPDCDU folgt der Begründung, Programmkinos kämen damit an einen Programm-Content, der ihnen in der (derzeit noch funktionierenden analogen Filmbelieferung im immerhin "kino-arteigenem" 35mm-Format) in Kürze verwehrt würde, denn längst habe ein Roll-out stattgefunden, der die Berliner Kleinkinos überrollen könnte.

Weder aber existiert im Moment eine Verleiherdrohung der Filmkopienverweigerung, noch ist der erhoffte Content durch Anbindung an ein Satellitenkino ("Opern-Übertragungen", Computerspiele, TV-Übertragungen, Interneteinwahl) imstande, durch Langzeitauswertungen oder sich seit jeher traditionell "entwickelnde" Kinoerfolge eine Standortsicherung oder eine im Kern kompetente Corporate Identity der Kinostätten auzubauen, zumal Kinostandorte immerhin Betriebs- und Mietkosten unterworfen sind — noch hat der neue Content bewiesen, durch Alternativen zum Multimedia- und Internetcontent eine exponierte Eigenständigkeit der Kinos aus der Taufe zu heben, die sich signifikant abhebt oder auf Autonomie resp. technologische und inhaltliche Vorreiterrollen zum Multimedia-Content pocht.

Zumindest bleibt dem Nicht-Multiplex-gebundenen Kinomarkt in Berlin, so lange er nicht digitalisiert ist, noch "Luft" genug, dass sich Filme auch entwickeln können — und voraussetzungsbedingt auch eine längere Auswertung mit dem Filmbestellvertrag über eine 35mm-Kopie anvisiert wird.

Mit der Digitialisierung — so beschreibt etwa Georg Kloster von der Yorck-Kino GmbH das unkaklkulierbare Szenario — begänne, sofern ich ihn zutreffend auslege, auch der Wettlauf um immer schneller wechselnde Contents, der sich gerade in Einzelhäusern, so etwa im"International", verhehrend auswirken könnte, da man dort auf Langzeiterfolge angewiesen ist.

Dem füge ich hinzu: es drohen durch Anschluß an Beamer- und Satelliten-Contents auch verkürzte Auswertungsfenster im Kinospiel wie auch eine ökonmisch nivellierende Gleichschaltung mit Videomedien oder dem Ondemand-Verleih über die Datenautobahn des Internets.

Kloster befürchtet vielleicht auch ein weiteres: daß ein zu rascher Programmwechsel und eine Vermehrung des Programmangebots vom Publikum auch immer weniger wahrgenommen wird. Somit sinkt der Warenwert, die Wareneinsatzquote, und letzlich die Marge für Verleih und Betreiber - egal, wer von beiden den Wettlauf nun zuerst anheizte.

Einige befürchten seit längerem ein Kinosterben als Folge der Digitalisierung. Dem wäre jedoch Widerspruch in der Darstellung noch ganz anderer Gründe entgegenzusetzten: denn nicht etwa die nicht-digitalisierten Kinos sterben zuerst (denn Verleiher wie Fox haben soeben eine 35mm-Zusage an Kinos abgegeben, welche, aus welchen Gründen auch immer, 35mm zu spielen wünschen), sondern vorrangig könnte die flächendeckende Digitalisierung eine Todrüstung der Content-Anbieter zur Folge haben und zur Marktbereinigung führen.

Ließe sich noch über eine Bereinigung von Orten schlechter Projektion oder bisweilen eintönigen Mainstream-Contents durchaus im produktiven und avantgardistischen Sinne diskutieren, so erweisen sich im Verständnis des klassischen Dilemmas die technologischen Umbrüche (bei andererseits durchaus freierem, qualitativ gleichmässigerem und konstengünstigerem Bezug von Content) möglicherweise als Bumerang für die filmproduzierende Industrie: jene wird den flächendeckenden Verlust der meisten ihrer einstmals ortsfesten und werbewirksamen Filmtheater kaum aufhalten können.

CINERAMA
Vorstandsmitglied des Kinomuseum Berlin e.V.

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