Samstag, 14. November 2009

Stuttgarter Kinogeschichten. Leben live im Kino: Detlev Mähl im Gespräch mit Joachim Polzer, Teil 5

Joachim Polzer: Man bräuchte ein Kinomuseum, das die verschiedenen Entwicklungsstufen des Kinos demonstrieren könnte, also von den Anfängen des Nickelodeon, bei denen der Filmstreifen vom Projektor vielleicht noch in einen Papierkorb lief, über die ersten Tonfilmkinos mit ihren verhältnismäßg kleinen Leinwandgrößen, über das klassische Breitwandkino, bei der die Raumsimualition durch die "Ausblendung" von störenden Wandeindrücken zu Gunsten eines als übergroß empfundenen Leinwandeindrucks vorgenommen wurde, bis hin zu Schachtel- und Multiplex-Modellen, einschließlich den Unterschieds zur elektronischen Projektion und ihren technischen und mittlerweise auch bereits schon historischen Entwicklungsschritten, Stichwort Eidophor. Dazu würde auch gehören, sich zu vergegenwärtigen, wie schlecht der Kino-Lichtton über den Zeitraum der 50 Jahre von 1930 bis 1980 wirklich geklungen hat, und welche Segnungen der Magnetton für eine kurze Zeit als Innovation brachte. Die Vergegenwärtigung von Kinomodellen über die Zeiten wäre also das Programm eines solchen Unterfangens.

Detlev Mähl: So etwas kostet viel Geld! Ich denke, es wäre schon viel gewonnen, wenn es zunächst erst einmal Demonstrationsfilme gäbe, die in diese Thematik wirklich einführen über die Geschichte der Filmformate und zwar immer im Verhältnis zur jeweiligen Bildgestaltung und Bildwirkung. -- Demonstrationsfilme also, die etwa auch die tonlichen Unterschiede über die Kinogeschichte hinweg verdeutlichen können. Es ist dabei also nicht die Frage, was die Leute sich angeschaut haben, sondern wie, unter welchen Bedingungen sie sich Filmen in Bild und Ton ausgesetzt haben. Denn es ist ja so, dass wenn die Leute erstmal hingesetzt sind und dann gleich wieder aufstehen sollen, und sich von Raum in den nächsten Raum gehend aktiv einbringen müssen, es vielen schon zu beschwerlich, zu unbequem sein wird. Man darf nie vergessen, dass die Leute ins Kino gehen, um sich einen Film anzuschauen; die technischen Erfordernisse und Bedingungen dafür bleiben den Meisten unbewusst. Zu viel technisches Wissen beeinträchtigt vielleicht auch die Illusion, der man sich im Kino hingeben möchte. So wird der Kreis derer, die sich für ein Kinomuseum mit dieser Perspektive interessieren, sicherlich sehr klein sein.

Joachim Polzer: Der Name "Kinolabor" wäre wahrscheinlich dafür treffender, gerade um konzentriert demonstrieren zu können, weshalb man das mal so gemacht hat, wozu man das gebraucht hat, wie teuer und aufwendig es war. Es geht also darum, dass man die Kinogeschichte in ihrem Spannungsverhältnis von Architektur, Betriebstechnik, Konventionen und Marktmechanismen anschaulich machen kann.


Detlev Mähl: Für Antworten auf Fragen wie: "Warum hat man also in vergangenen Zeiten eigentlich mal so viele kilometerlange Filmsteifen durch die weite Welt expediert?" In der heutigen Zeit, in der man eine Bildqualität, die über 35-mm-Normalformat liegt, stundenlang auf einen kleinen Chip gespeichert bekommt und masse- wie mühlos über die Welt verbreiten kann, wird die Kinopraxis des 20. Jahrhunderts extrem erklärungsbedürftig. Man wird in so einem "Kinolabor" den zeit- und kulturgeschichtlichen Kontext stets miterklären müssen. Dabei scheint mir das Allerwichtigste zu sein, dass die Kinoerfahrung wesentlich vom Verhältnis der Leinwand zum Zuschauerraum geprägt ist, dass also die Platzwahl des Zuschauers im Kinoraum das entscheidende Moment für sein bestimmtes Kinoerlebnis in einem bestimmten Kino ist. Man darf nie von der Leinwand zu weit entfernt sitzen und die technische Bildqualität muss so gut sein, dass ein naher Betrachtungsabstand ohne Beeinträchtigungen möglich ist. Ob es in solch' einen "Kinolabor" dann ein Verbot der "oralen Befriedigung" gibt, ein Kinobetrieb also ohne gefährliche Flaschen, gesundheitschädlichem Popcorn, ohne Taco-Klebstoff auf den Sitzen und ohne Cola-Tonverstärker mit Saugrüssel -- oder ob man klassisch zum "Eis-Konfekt" mit geräuschloser Verpackung zurückkehrt, das darf man im gegebenen Fall dann ja noch ausdiskutieren.

Joachim Polzer: Irgendwie erinnern ja diese Berge an vollen Tablets beim Kinobesuch wieder an das "Futter" der damaligen "Kino-Center" mit ihren Schachtelkinos. Jetzt ist das "Futter" für das "Umsatz-Nutzvieh" vom Metaphorischen auf's leibliche Menütablet runtergekommen. Gegen ein gepflegtes und gemütliches Cafe im Kino selbst wäre aber nichts einzuwenden, oder?

Detlev Mähl: Seltsamerweise sind die meisten, die so etwas versucht haben, daran gescheitert. Cafe ist Cafe und Kino ist Kino, so getrennt ist eben die kulturelle Herkunft dieser beiden unterschiedlichen öffentlichen Stätten. Man geht also nicht zum Cafe ins Kino. Es gab ja auch die Idee der kulinarischen Service-Kinos mit Bedienung, die in der Praxis in der Regel nicht funktioniert haben.

Joachim Polzer: Flebbe versucht mit der "Astor Film-Lounge" in Berlin ja jetzt die Business-Class ins Kino zu bringen. Ein interessanter Ansatz, wenn auch die Erste Klasse noch fehlt: Ich möchte mir einen Hocker für meine Füsse nicht extra anmieten müssen.

Detlev Mähl: Das Konzept der "Premiumkinos" stammt ja eigentlich aus den USA und bei uns in Europa aus der Schweiz. Ich finde, ein Ledersessel ist im Kino fehl am Platze. Selbst wenn man einen Rollstuhl ins Kino stellen würde, brächte der noch mehr nostalgisches Feeling als zum Beispiel ein Ledersessel. Ein Ledersessel ist ein Alltagsgegenstand, den man zu Hause hat. Man hat auf den Klappsitzen des Kinos auch dann noch bis zum Schluss ausgehalten, wenn der Arsch weh tat. Einfach weil der Film so spannend war und man dabeibleiben wollte. Eine Marktchance sehe ich eher dann, wenn man heute Kino so machen würde, wie es früher mal war: mit freundlichem Türsteher in Uniform, mit taschenlampenbestückter Platzanweiserin an jeder Ecke doppelt besetzt, mit einer Wiedereinführung der Sitzklassen im Kino und der Bedeutung, dass man für bestimmte gute Plätze eben auch mehr bezahlen muss. Mit Lautsprecher-Live-Ansagen wie: "Guten Tag, hier spricht Ihr diensthabender Chefvorführer, das unbekannte Wesen, er sitzt hinter und über ihnen und wünscht Ihnen eine angenehme Vorführung".

Joachim Polzer: Warum gilt Stuttgart eigentlich, was die Liebhaber an Filmkunst und den Betrieb von Filmkunsttheatern angeht, stets als "schwieriges Pflaster"?

Detlev Mähl: Ja, weil eine große Anzahl an Filmkunstliebhabern wahrscheinlich nie richtig gebildet wurde.

Joachim Polzer: Und warum wurde sie nicht gebildet?

Detlev Mähl: Na, weil kein Interesse bestand. Letztlich geht es in der Kinobranche immer um's Geschäft. Man hat diese anspruchsvolleren Filme halt gezeigt, weil man gesehen hat, dass man damit eben auch Geld verdienen kann. Im Endeffekt ging es auch bei der hochwürdigen Filmkunst immer nur um's Geschäft. Die ganze Sache mit der Filmkunst war stets eine Sache der geschäftlichen Nötlösung, aus der Tatsache heraus begründet, dass es analoge Filmstreifenkopien bei einem Filmstart immer nur in sehr begrenzter Anzahl verfügbar waren. Und wenn man eben keinen Bond-Film bekommt und dabei mitspielen darf, dann nimmt man vielleicht einen Bunuel-Film, weil damit kann man, wenn man der Einzige vor Ort damit ist, eben auch Geld verdienen. Ob die, die immer die Filmkunst als ihr Ding so hochgehalten haben, wirklich hinter ihrem Programm standen, kann man schwer einsschätzen.

Joachim Polzer: Fing man in den 1970ern an, Kino machen zu wollen, dann bot sich diese Nische natürlich an. Die Colm Filmtheaterbetriebe haben damals in Stuttgart diese Nische ja im Bambi im Atrium -- neben Peter Erasmus mit seiner "Lupe" und dem "Atelier" -- auch bedient. Gab es da mal interessante Begegnungen zwischen Dir als technischem Leiter und Filmemachern, die vorbei kamen?

Detlev Mähl: Jan Harlan kam vorbei, um für Kubrick beim Film "Barry Lyndon" unser Kino abzunehmen. Der Film lief zwar nicht besonders, aber für die damalige Zeit war der Film mit seinen Available-Light-Aufnahmen natürlich eine Sensation. Harlan spürte und merkte, dass da jemand ist, der sich mit der Sache identifizierte und das hat ihm gefallen. Auch Fassbinder kam vorbei; wir sind dann in's Cafe Weiß in der noch nicht abegrissenen und noch nicht als Schwabenzenrum sanierten Altstadt gegangen, zwischen dem ehemaligen Horten- und dem Breuninger-Kaufhaus gelegen. Der Weiß war in der aufkommenden Stuttgarter Homosexuellen-Szene der erste, wo man hinging. Wenn Fassbinder dann besoffen war, hatte er über den Tisch gepinkelt, was ich alles persönlich miterleben durfte. Fassbinder war eben so ein ganz anderer Typ; er war damals mit seinem erlauchten Kreis um Harry Bär und Volker Spengler zusammen unterwegs. Ich durfte dann Gästebetreuung übernehmen. Auch Eva Mattes war mal bei einer Premiere mit dabei; die ganzen Premieren waren für lokale Schauspieler auch so etwas wie ein Markt, um an Engagements bei nächsten Filmprojekten vielleicht heranzukommen. Ich persönlich wollte ja keine Rolle, höchstens eine Filmrolle. (lacht) Für mich jedenfalls waren diese Begegnungen mit diesen Leuten sehr interessant. Ich habe Fassbinder und seine Crew auch mal in der damaligen westdeutschen Filmhauptstadt München und in Schwabing besucht. Das war natürlich sehr anregend, aber nicht meine Welt.

Joachim Polzer: Hermann Schreiber hat in einem Buch mit dem Titel "Stuttgarter Skizzen" in den 1960ern mal geschreiben, dass das Beste an Stuttgart der D-Zug nach München sei. Das meinte ich vorhin mit "schwierigem Plaster". Bis zur Ankunft der kulturellen Veränderungen mit der Politik von Lothar Späth kannte man in Stuttgart ein lebendiges urbanes Leben nicht wirklich. In weiten Teilen der Stadt herrschte auch werktags und tagsüber eine friedhofsähnliche Stimmung. Demgegenüber ist das heutige Suttgart mit seinem Flair von Milano und Florenz nicht mehr wieder zu erkennen, wenn man es mit den 1960ern und 1970ern vergleicht. Damals gab es für die junge Generation einfach so gut wie nichts. Die Tanzwütigen sind ins "Tao" gegangen, die intelligeren sind dann zu Peymann in's Staatstheater gerannt und die technischen Träumer des Kinozaubers landeten bei Dir im Atrium. Für eine Landeshauptstadt mit einer Einwohnerzahl von mehr als 500.000 war das nicht allzu viel.

Detlev Mähl: Die grundlegende Mentalität hat sich hier aber nicht grundlegend verändert: Man möchte immer noch etwas schuldig oder sündig oder unsauber finden können.

Joachim Polzer: Nach über 10 Jahren DVD-Technologie leben wir jetzt am Dekadenwechsel von den Nuller-Jahren zu den Zehner-Jahren in einer Zeit, in der wir auf weite Teile des ehemaligen Kino-Repertoires im Heimkino wieder Zugriff haben -- in einer Art und Weise und in einer technischen Qualität, von der man damals, als diese Filme ins Kino kamen, nur Träumen konnte. Gleichzeitig erleben wir gerade nun doch und sehr verspätet den Technikwandel vom Filmstreifen-Kino zur elektronischen Projektion. Auf der anderen Seite wird das Kinovergnügen in einer zunehmendenden Wirtschaftskrise tendenziell zu teuer. Es wird, glaube ich, wieder preiswerte Kinos geben müssen, was das Kinoproblem zusehends zu einer Frage der Immobilienwirtschaft macht, wenn es nicht stadtplanerisch und kulturpolitisch gelenkt wird. Du bist vor einiger Zeit nach Deinem Engagement im Stuttgarter Multiplex "Ufa-Palast" in Pension gegangen. Wie würdest Du rückblickend Deine Arbeit zusammenfassend einschätzen?

Detlev Mähl: Das Schlimmste am Beruf des Filmvorführers war die Gewohnheit und die Gleichgültigkeit in dem Job. Das Monotone ist das eigentlich Gefährliche in dem Beruf, das einen herunterzieht. Um menschlich nicht zu verkümmern, bedarf es der Pflege von Beziehungen und von Freundschaften, die einen auch vor Aufgaben stellen. Dass man also Leute um sich hatte, denen man menschlich etwas geben konnte -- also Leute kennt, die einen an menschliche Probleme heranführen, die man selbst oder alleine nie hätte. Ich fand es wichtig, dass man für Lebenserfahrung außerhalb des Kinos offen ist und bleibt. Das Leben findet außerhalb des Kinos statt.


Das Gespräch fand am 26. März 2009 in Stuttgart statt.
Transkriptionsstand: 14. November 2009

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