Sonntag, 4. Oktober 2009

Stuttgarter Kinogeschichten. Leben live im Kino: Detlev Mähl im Gespräch mit Joachim Polzer, Teil 1

Joachim Polzer: Wir haben uns 1975 in Stuttgart kennen gelernt, das war vor fast 35 Jahren. Wir wollen in diesem Gespräch einmal auf diese Zeit des Kinos in den ausgehenden 1970er-Jahren und die Entwicklung danach näher eingehen. Aber fangen wir doch zunächst einmal mit Deiner Herkunft an, also mit etwas, was uns damals, wo wir alle mit und im Kino so beschäftigt waren, nur sehr am Rande beschäftigt hat. Wie kamst Du in die Kinoszene von Stuttgart hinein? Waren Deine Eltern Schwaben?

Detlev Mähl: Meine Mutter stammte aus Freiburg, war also badisch. Mein Vater kam aus Mecklenburg, arbeitete im Dritten Reich bei Peenemünde und wurde dann von den Alliierten "mitkassiert".

Joachim Polzer: War er Teil der Raketenforschung der Nazis?

Detlev Mähl: Ja, irgendwie war er daran beteiligt. Ich habe aber nie genau Aufklärung darüber bekommen. Er kam dann irgendwann angeschlagen aus der Gefangenschaft zurück und starb danach bald. Meine Mutter hat sich wieder verheiratet, bekam ein neues Kind, aber der zweite Mann verunglückte tödlich; so heiratete meine Mutter dann zum dritten Mal. Die Familie meines Vaters war sehr vermögend; meine Mutter war 45 Jahre jünger als mein Vater. Ich bin 1943 geboren; meinen Vater habe ich eigentlich nicht bewußt kennen lernen können. Nach den Kriegswirren bin ich in Niederbayern aufgewachsen, in Eidelbach bei Vilshofen. Ein Onkel von mir hatte dort eine Gastwirtschaft und machte aus dem Tanzsaal ein Kino. So bin ich in frühen Jahren ins Kino reingekommen. Im Tanzsaal wurden die Stühle fixiert, vorne auf der Bühne wurde eine Leinwand installiert. Es war nicht so komfortabel wie in den anderen umliegenden, richtigen Kinos, die dann recht bald in den 1950er-Jahren auch mit CinemaScope und 3-D anfingen, aber es hat Freude gemacht. Bei uns lief dann ab etwa 1950 "Schwarzwaldmädel" und dann mit Errol Flynn "Leichte Kavallerie". Und von meinem Onkel habe ich dann die einzelnen Verschnittbildchen bekommen, die im Vorführraum angefallen sind. Die habe ich dann jahrelang gesammelt. Auch ein Kinderkino wurde in unserem Kino angeboten, bei dem ein Kinoerzähler Standbilder auf die Leinwand geworfen hat.

Joachim Polzer: Bei Dir setzte also mit acht, neun, zehn Jahren ein sehr frühe Kinobegeisterung ein?

Detlev Mähl: Kann man so sagen. Ich durfte zwar nicht in jeden Film rein, weil der Pfarrer vorne die Filme entsprechend zensierte. Also ein Kuss war schon eine "Drei". Und eine "Drei" war nicht jugendfrei. Auch bei "Zwei" durften Kinder nicht rein, nur bei "Eins", das waren dann meist die Walt-Disney-Filme.

Joachim Polzer: Es gab in Niederbayern also eine lokale Filmzensur?

Detlev Mähl: Ja und die lag in den Händen des Pfarrers.

Jochim Polzer: Wie kam die Familie von Peenemünde nach Niederbayern?

Detlev Mähl: Mein Vater hat das noch arrangiert. Durch die Fliegerangriffe waren ich und meine Mutter gefährdet. Wir lebten damals in Berlin und mein Vater hatte in Niederbayern bäuerliche Verwandtschaft. Er arrangierte das dann, das wir zusammen mit meiner Oma nach Bayern übersiedelten. Als Kind hatte ich dort eine tolle Zeit. Es gab immer was zu Essen und das reichlich. Es hat im Alltag auch sehr lustige Erlebnisse gegeben. Wenn reiche Bauern geheiratet haben, dann wurde das ganze Dorf eingeladen und ein großes Fest gefeiert. Und der Pfarrer mochte mich auch ganz gern. Wie gern, das ist eine andere Sache. Auf jeden Fall erzählte er mir dann auch so Geschichten von Untoten, was mich immer ganz begeisterte. Zur damaligen Zeit gab es ja noch die "Bittgänge". Man ist zum Beispiel, wenn es im Sommer nicht geregnet hat oder es zu wenig Sonne gab, zum Wallfahrtsort Altötting gepilgert, weil man hoffte, wenn man zu Fuß diese Wegstrecke von 50 bis 60 km geht, es dann eine Wendung zum Besseren gäbe. Dafür mußte jemand in der Frühe das Dorf wecken. Die Aufgabe hat der Pfarrer dann auch mal mir aufgebürdet. Ich wollte dann des Morgens die Glocke ziehen, aber es war kein Seil mehr dran; es gab wegen eines Seilwechsels an der Glocke nur eine ganz kleine Glocke, die einsatzfähig war und die sollte ich dann läuten. Aber wie ich dann in dem halbdämmrigen Licht nach oben kam, sah es so aus, als stünde und bewegte sich da ein Gespenst. Durch meine Phantasie, angeregt durch die Geschichten des Pfarrers, erschien mir das sehr real. Ich bin dann schnell zum Pfarrer runter gerannt, der mir entgegnete: "Das kann gar nicht sein, mein Sohn." Ich sagte: "Doch!" Er ist dann hoch gegangen, kam wieder zurück und sprach: "Du nimmst das Kreuz und gehst voran! -- Wenn da oben der Böse ist: Du bist ein unschuldiges Kind. Dir wird er nichts tun!" Ich bin dann voraus gegangen und in dem Moment hat das Ding uns umschlungen. Vor Schreck sind wir beide die Treppen heruntergefallen. Ich auf den Pfarrer drauf und wir haben uns beide nicht nur sprichwörtlich in die Hose geschissen, wenn ich mich recht erinnere. Später hat sich dann heraus gestellt, dass sich eine Riesenfahne, die da oben im Geläut hing, durch den Wind bewegte, was im Dämmerlicht gruselig wirkte. Ich mußte ihm dann versprechen, dass ich zu seinen Lebzeiten diese Geschichte niemanden erzähle.

Joachim Polzer: Es kling ein wenig nach "Vertigo"...

Detlev Mähl: Später habe ich dann solche Filme sehr gern gemocht. Nur kam ich halt damals nicht hinein, von wegen Jugendschutz.

Joachim Polzer: Aus welchem Grund bist Du dann aus Niederbayern nach Stuttgart gekommmen?

Detlev Mähl: Meine Mutter hatte sich nach dem Tod meines Vaters wieder verheiratet und zwar nach Stuttgart mit einem Schwaben. Ich blieb noch eine Zeit lang bei meiner Großmutter in Bayern. Später hat mich meine Mutter dann nachgeholt, das war 1955 zur "CinemaScope"-Zeit. Die Oma meines neuen Vaters hatte in Gablenberg gewohnt. So sind wir zu ihr gezogen. In Stuttgart war es dann wie im Kinoparadies, weil man um 11 Uhr schon ins Kino gehen konnte. Der Eintritt kostete 50 Pfenning. Es gab ein kleines Kino in der Eberhardstraße, das hieß die "Flohkiste". Dort liefen dann alte Western und Filme mit Errol Flynn. So hat man den Filmkanon der B-Movies im Kino erleben können. In der Nachkriegszeit der fünfziger Jahre gab es noch viel gestaute Hollywood-Ware, die man in der Nazizeit nicht hatte exportieren können. Man zahlte einmal Eintritt und konnte so lange sitzen bleiben, wie man wollte. Den "Schwarzen Falken" habe ich so an einem Tag sieben Mal hinter einander sehen können.

Joachim Polzer: Du kamst irgendwann trotz Kinobegeisterung in eine weiterführende Schule?

Detlev Mähl: Ich bin dann in die Wagenburg-Schule gegangen. Die Familie eines Schulkamerads von mir aus einer Parallelklasse besaß ein Kino, das "Schauburg"-Kino am Stöckach. Der Vater des Schulkameraden war ein alter Kinofreak, von früh her schon, besaß in den Vororten weitere Kinos, in Sillenbuch und Heumaden etwa. Diese außerbezirklichen Kinos bekamen dann als "Nachspieler" durch die um sich greifende Motorisierung immer mehr Schwierigkeiten, weil die Leute lieber in die Stadt gefahren sind. Aus dem Stuttgarter Schauburg-Kino am Stöckach wurde dann später der Gutshof. Das Gebäude steht heute noch. In der Schauburg durfte ich dann auch mal in den Vorführraum gehen und ich fing an, neugierig zu werden. Ich kannte ja schon Kinobetrieb durch meine Zeit in Niederbayern. Aber ich kannte noch nicht die CinemaScope-Leinwand, die im Verhältnis bekanntlich sehr groß war. Kinos wurden damals erstmals nach der Leinwand gebaut, also nicht wie früher umgekehrt. Und das war sehr interessant für mich. Auch der Mehrkanal-Magnetton war neu für mich. Es fing allerdings damals schon an, dass CinemaScope-Kopien mit Lichtton ausgeliefert wurden. Wenn der Vorführer keinen Handumspuler hatte, sondern die Rollen mit dem Waschmaschinen-Motor zurück gespult wurden, haben sich Magnetfelder übertragen, die auf der Magnettonspur zu Brummen oder sonstigen Störungen führten. Beim dortigen Vorführer konnte ich so ein wenig lernen, durfte Rollen einlegen. Dabei hab ich mich ganz gut angestellt. Der Vater meines Schulkameraden sagte: "Ich hab im Sommer gar keinen Vorführer. Willst Du das nicht machen?" So ging ich dann mit 13, 14 Jahren daran, diese Sommervertretung zu übernehmen. Zu Hause hab ich dann nicht gleich die Wahrheit gesagt, sondern sprach vom "Schullandheim" als ich abends spät heimkam. Damals liefen in der Stuttgarter Schauburg drei Vorstellungsarten: eine Jugendvorstellung um 14 Uhr, dann die letzte Hauptvorstellung um 20 Uhr und dann um 23 Uhr eine Nachtvorstellung. Und in der lief damals "Dracula". Ich weiß noch ganz genau: In jedem Kino brannte die Notbeleuchtung, nur bei uns ist während "Dracula" diese Notbeleuchtung irgendwie ausgefallen. Als der Film dann zu Ende war, wollte keiner den Saal verlassen, weil es Draußen auch so stockdunkel war. Es hat sich keiner raus getraut. Als die Notbeleuchtung wieder anging, saßen die immer noch im Saal. So sehr hat die der Film mitgenommen.

Joachim Polzer: Über Deine frühe Tätigkeit als Vorführer hast Du damit auch die Kinosituation in Stuttgart von innen kennen gelernt?

Detlev Mähl: Klar. Du bist dann ja auch in die anderen Kinos gegangen, um mal einen Vergleich zu haben. Das "Gloria" an der Königstraße war dann auch irgendwann fertig und nach der Eröffnung sah ich dort dann deren Eröffnungsfilm "Porgy and Bess". Der war in 70-mm und mit 6-Kanal-Magnetton. Die Raumtonmischung, wenn die Schauspieler von Links sprechen eben auch der Ton von Links kommt und bei Bewegung der Schauspieler auf der Leinwand eben auch die Tonmischung dies mitführte, das fand ich ganz hervorragend. Ich konnte mir das allerdings nicht genau erklären, weil der 4-Kanal-Magnetton bei CinemaScope, den ich von der Schauburg her kannte, nicht so aufwendig gewesen war, weil dort die beiden Kanäle Halblinks und Halbrechts fehlten, was in der Pan-Pot-Sprachmischung zu Tonlöchern geführt hätte, wenn man die Sprachquelle beispielsweise von ganz Links nach ganz Rechts bewegen läßt. Als ich dann mit meinem neuen Wissen in meiner gemischten Klasse prahlen wollte und Mädchen mal zum Mitkommen animieren wollte, da lief der Film schon nicht mehr im "Gloria", sondern im "Cinema", dem kleinen Eckkino im Mertzgebäude am Schloßplatz. Das "Cinema" hielt ich damals schon für ein ganz übles Kino, von der Leinwand und von der Raumsiuation her. Und meine weibliche Kino-Begleitung, die selbst von der neuen Stereo-Schallplatte begeistert war, sagte dann: "Ich höre nichts von links, ich höre nichts von rechts, alles kommt aus der Mitte. Und Du hast mir auch was von einem riesigen Bild erzählt. Da stimmt doch was nicht! Was Du immer erzählst!" Ich konnte das dann nie bereinigen. Aber in Stuttgart gab es dann noch das "Atrium", das, wie auch das "Gloria", in den 1950er-Jahren entstand.

Joachim Polzer: Das "Atrium" und das "Gloria" waren in der Stuttgarter Innenstadt die eingeführten und repräsentativen 70-mm-Häuser?

Detlev Mähl: Ja, aber das "Atrium" war vor dem "Gloria" schon da. Das "Atrium" fing mit CinemaScope an und führte dann später mit Todd-AO die Breitwandtradition weiter. Der alte Herr Willy Colm hatte halt früh erkannt, dass man mit einer Investition in diese Technik eine tolle Wirkung erzielen kann und damit eben auch mehr Publikum bekommt. Der Vater meines Schulfreundes hatte dann in Cannstadt in der Augsburger Straße das "Panorama" als 70-mm-Filmtheater als ganz neues Kino mit einer riesigen Leinwand von über 100 Quadratmetern gebaut. Da das "Atrium" aber die Erstverträge hatte, konnte er nie gleich mitspielen. Bedingt durch die langen Spielzeiten im "Atrium" war es dann aber schon bald nicht mehr lukrativ. Zwar war das "Atrium" das Top-Kino in Stuttgart, aber der Vater meines Schulfreundes hatte durch Neigung und Können eben im "Panorama" noch das letzte Tüpfelchen als Vorführqualität herausgeholt, weil er eben mehr Interesse hatte. Das "Panorama"-Gebäude steht immer noch, das Kino gibt es nicht mehr, es sind jetzt Büros und Wohnungen daraus geworden. Damals war das Kino allgemein eine Goldgrube, in der man über die Jahre auch mit mittleren Betrieben Millionen verdienen konnte, was man heute eben nicht mehr kann.

Joachim Polzer: 1960 warst Du 17. Irgendwann war die Schule zu Ende...

Detlev Mähl: ... und dann ging es darum: "Was willst Du werden?" Ich hab im Schultheater bemerkt, dass ich ein gewisses Talent fürs Theater und für's Spielen habe. In Feuerbach gab es eine Art Bauerntheater. Der Leiter kam auf mich zu und sagte: "Du, ich brauch' jemand, der mir einen Depp spielt. Du kannst doch recht lustig sein, wie wär's also? Willst Du das nicht machen?" Ich habe das dann mit großem Erfolg gemacht. Die Leute haben über meine Bühnenleistung gelacht. Das Starhafte bekam man ja im Kino ganz gut mit. Das ging mir dann im Kopf so rum. Ein Schauspieler aus dem Staatstheater war auch dort und fragte mich, ob ich das denn nicht als Beruf oder professionell machen möchte. Es ging nach meinem Schulabschluss also um eine Aufnahmeprüfung zur Schauspieler-Ausbildung. Ich habe dann vor Dieter Eppler und Hans-Peter Hallwachs als damals aufstrebendem Jungschauspieler meine Aufnahmeprüfung recht gut bestanden. Ich habe die Klassiker recht lustig dargestellt, das lag mir und dafür hatte ich wohl ein gewisses Talent. Als ich die Tatsache der bestandenen Aufnahmeprüfung meinen Eltern erzählte, haben die mir allerdings recht schnell den Wind aus den Segeln genommen. Mein Stiefvater, der damals schon Fertighäuser mit dem Kapitalgrundstock meiner Mutter verkaufte, sagte dann zu mir: "Ich hab' mit Dir ganz andere Dinge vor! Du wirst mein Juniorchef, bekommst eine eigene Wohnung und ein Auto." -- Das hat er dann auch gehalten. Aber ich habe mich mit ihm dann doch nicht recht vertragen, weil ich merkte, dass das, was er mir als meine Zukunft versprochen hatte, nicht einhalten wollte. Und ich merkte auch, dass es sich auch privat ganz anders darstellte: So eine Berufsaufbildung oder ein Studium des Stiefsohns kostet halt Geld und das steckt man doch lieber in ein eigenes Einfamilienhaus. Das Angebot zum Einstieg in die familiäre Firma war letztlich ein Versuch, Geld zu sparen. Meine Mutter hatte das wohl zu seiner Zeit nie ganz durchschaut. Sie hatte damals auch mehr Angst vor der Luftigkeit und Unstetigkeit des Bühnenberufs. Als das alles schlussendlich dann heraus kam, hat sie das wohl ziemlich getroffen. Mein Stiefvater hat mich zum Schluss rausgeschmissen. Ich stand dann 1962, 1963 ohne Berufsausbildung und ohne Job erst mal da. Ich versuchte zunächst, mein Netzwerk an Bekanntschaften in die Stuttgarter Kinos zu reaktivieren, um eine Beschäftigung zu finden. Die Filmvorführer in den Kinos waren in ihrer Tätigkeit damals ja recht einsam. Sie mußten in ihrer Vorführkanine bleiben und durften dort nicht raus. So freuten sie sich schon, wenn da ein Junge kam, der sich für ihre Materie interessierte. Man bekam technisch alles gezeigt und durfte auch mal einen Film einlegen; man durfte, wenn wenig Besucher in einer Vorstellung waren, auch mal selbst überblenden. Die Überblendung bei dem 600-m-Rollen-Betrieb durfte ja nicht schief gehen. So entstanden Bekanntschaften und auch ein Netzwerk an Leuten, das man bei einer Jobsuche einsetzen konnte. Aber dann kam mir der Bundeswehrdienst dazwischen. Ich mußte einrücken. Das kam zu meiner Situation auch noch dazu. Dort ist mir mein Hang zu Kino geblieben. Bei der Truppe hatten die so eine Art 16-mm-Feldkino und in Esslingen auch ein echtes 35-mm-Truppenkino zur Soldatenunterhaltung. Bei einer Nahkampf-Übung hatte ich mir die Schulter verletzt, klagte gegen den Bund und bin mit einer kleinen Rente entlassen worden. Um meiner Mutter nicht auf der Tasche zu liegen, fing ich wieder an, als Vorführer etwa im Gablenberger "Apollo"-Theater am Ostendplatz zu jobben. Die 600-m-Rollen konnte ich mit meiner ständig auskugelnden Schulter gerade noch stemmen.

Joachim Polzer: Du lerntest durch Deinen Schulfreund am Ende der 1950er-Jahre relativ früh zunächst mit Kinobegeisterung und dann nochmals am Anfang der 1960er-Jahre durch Deine berufliche Neuorientierung die Kinoszene in Stuttgart recht intensiv kennen.

Detev Mähl: Mit dem Aufkommen des Fernsehens und den ersten TV-Events, wie beispielsweise den Durbridge-Verfilmungen, bekam diese Boombranche am Anfang der 1960er-Jahre eine erste Flaute zu spüren. Wenn "Melissa" ausgestrahlt wurde, dann wurden die kleineren Filmtheater außerhalb der Innenstadt als erste an den Rand gedrängt. Die Innenstadt-Kinos waren davon weniger betroffen, etwa das "Universum" in der Königstraße 4. Das Universum lag dort, wo heute der Kaufhof steht. Oder das dort damals gegenüber dem "Universum" befindliche "Palast"-Kino in der Königstraße, nicht zu verwechseln mit den späteren Palast-Kinos, die zuvor schon und heute wieder Metropol-Kinos heißen. Das ursprüngliche "Palast"-Kino in der Königstraße war ein riesiger Barackenbau und stand an der Stelle, an der später das KFA-Kaufhaus gebaut wurde, das spätere, untere Hertie-Kaufhaus in der Königstraße. Am Kunstgebäude des Schloßplatzes war dann noch die "Kamera", quasi ein halbes Freiluftkino. Im Hauptbahnhof gab es das "Bali"-Kino am Westeingang des Hauptbahnhofs und im Hindenburgbau das "Rex"-Kino. Das "Gloria" war dann Ende der 1950er-Jahre das letzte Stuttgarter Kino, das speziell für 70-mm-Präsentation gebaut wurde. Als das "Metropol-Theater" in "Palast"-Kinos umbenannt wurde, konnten die dort ebenfalls 70-mm-Kopien spielen. Die gesamte Leinwand des neuen "Palast"-Kinos konnte nach oben weggezogen werden, so dass man den Saal auch weiterhin als Theater mit Bühne benutzen konnte. Bei der Eröffnung des Metropol-Palastes lief "The Alamo" von John Wayne, später auch "Der Untergang des Römischen Reiches" und "Onkel Toms Hütte" dort in 70-mm. Da das "Atrium" ständig durch langlaufende Filme, meist von MGM, ausgebucht war, liefen im "Gloria" 70-mm-Filme wie "Lawrence von Arabien", "Die Königin von Saba", "Lord Jim", "Flying Clipper" und "Der Kongress tanzt" und als Eröffnungsfilm eben "Porgy and Bess". Das "Universum" war damals das größte Kino in Stuttgart; dort liefen dann die ganzen "Karl-May-Filme" oder etwa auch "Ein toller Käfer" und "Spiel mir das Lied vom Tod". Im "Universum" liefen die Filme allerdings nur wenige Wochen lang, während im "Atrium" die 70-mm-Kopien von "Doktor Schiwago" oder "Ben Hur" zum Teil auf 12 bis 16 Monate Spielzeit kamen. In der Calwer Straße gab es dann noch die "Calwer Lichtspiele". Das war insofern interessant, weil dort der Film "Der große Regen" gezeigt wurde. In einer Vorstellung, samstags, das vergesse ich nie, tropfte es -- sehr passend zum Film -- vom Flachdach aus in den Zuschauerraum. So etwas ist dann immer Leben live im Kino.

Fortsetzung folgt.

Bildnachweis: Jochim Polzer

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