Joachim Polzer: Ich möchte nochmals zurück kommen zu den 1970er-Jahren. Bei den Kinoprogrammen hatten sich damals mehrere "Wellen" übereinander gelegt. Einseits gab es letzte Höhepunkte des epischen Kinos in Breitfilmen, andererseits konnten die wirklich überragenden Werke des Breitwandkinos nochmals mit Retrospektiven auch im regulären Kinoprogramm gezeigt werden, weil Kinowerke wie etwa "Ben Hur" von 1959 oder "2001 - A Space Odyssey" für das Fernsehen "selbstverständlich" gesperrt waren und sie sich zudem noch nicht auf Heimmedien selbst Konkurrenz machen konnten.
Detlev Mähl: Und dann aber plötzlich so ein Knaller wie "Easy Rider" oder Konzertfilme wie "Woodstock". Als David Lean "Ryans Tochter" 1970 in die Kinos kam, erfüllte er schon nicht mehr die Erwartungen des Publikums und damit natürlich auch nicht die Erwartungen an der Kinokasse: Wunderschöne Bilder und eine bezaubernde Geschichte, aber die Zeit war einfach vorbei. Und dadurch benötigte man eben auch nicht mehr diese aufwendige Kinomaschinerie. Der traditionelle, US-amerikanische Western hatte sich gleichzeitig auch schon totgelaufen, bis dann Leute wie Leone aus Italien kamen und das Genre neu erfanden und wieder belebten.
Joachim Polzer: Der Zeitgeschmack hatte sich einfach verändert und die Lebensstilrevolution der Jugend fand langsam ihren Ausdruck in den Filmen des "New Hollywood".
Detlev Mähl: "2001" hatte im Kino natürlich auch so seine Probleme. "2001" war ja im eigentlichen Sinn kein Science-Fiction-Film, sondern eher ein Kunstfilm, man muss es so betrachten, gerade mit seiner Bild- und Tonwirkung -- bedingt durch seine Aufnahmetechnik, die wirklich super-scharfe Bilder hervorbrachte, wenn die Projektion stimmte. Und da lag oft das Problem. So ein überbreiter Film, wie eben das 70-mm-Format, musste sehr genau im Bildfenster des Projektors liegen. Wenn irgendwelche Unebenheiten vorkamen, war das Bild von Vorneherein unscharf. Vorführer tendierten dann oft dazu, solche partiellen Unschärfen durch Verkannten des Bildfensters wieder auszugleichen, was aber das Problem letztlich nur noch verschärfte. Gleichzeitig muss bei der 70-mm-Vorführung auch im Lampenhaus bei der Ausleuchtung der Brennpunkt ein anderer sein und dafür muss die Optische Achse verschoben werden, sonst bekommt man in der Bildmitte einen Hotspot mit Abschattung zu den Rändern. Zudem scheint bei falscher Ausleuchtung das Bild unschärfer zu sein. Und da fängt dann die Kunst der Filmprojektion und die des Filmvorführers eben an.
Joachim Polzer: Das "Atrium" war mit zwei DP-70 von Philips ausgestattet.
Detlev Mähl: Ja, die beiden DP-70 wurden nach dem Umbau übernommen. Die DP-70 wurde damals übrigens liebevoll als "Dollar-Prinzessin" bezeichnet, weil Philips sehr viele davon in die USA verkaufen konnte. Die DP-70 war, gerade was den Bildstand betrifft, damals das beste Gerät für 70-mm-Projektion am Markt. Bauer bot später mit der U2 auch einen 70-mm-Projektor an. Man konnte auf der DP-70 als Doppelformat-Projektor ja auch 35-mm-Film spielen. Bildstandprobleme gab es mit diesem Projektor nur dann, wenn das Maltesterkreuz defekt war. Die DP-70 hatte eine eigenartige Konstruktion: Man konnte die Filmbühne im Projektor zum Filmeinlegen nur dann aufbekommen, wenn die Umlaufblende einen ganz bestimmten Stand hatte. So ein Projektor benötigt eben eine gewisse Zeit, bis nach dem Filmdurchlauf und dem Ausschalten der Machine die Mechanik ausläuft und ganz zum Stehen kommt. So mancher Filmvorführer wollte dies nicht abwarten und hat die Filmbühne noch bei auslaufender Mechanik aufgerissen, was dazu führte, dass die Umlaufblende auf die Filmbühne knallte, und so zu einem belastenden bis überlastenden Ruck auf das Malteserkreuz führte. Die mechanische Friktion für die Filmspulen und das Malteserkreuz-Getriebe der DP-70 waren schon recht stabil und für 70-mm-Film verstärkt, aber dann doch nicht so stark gewesen, als dass es nicht ab und zu notwendig wurde, zumindest das Malteserkreuz-Getriebe zu wechseln. Wenn man darauf achtete, belohnte es einem die DP-70 mit einem hervorragenden Bildstand. Der Filmproduzent Michael Todd wollte ja das dreistreifige Cinerama-Verfahren durch ein nach ihm benanntes Breitfilmverfahren "aus einem Loch" ablösen und man wollte in den USA damals einfach große Bilder haben. Mit den damaligen Auflösungsgrenzen der chemischen Emulsionen war das große Negativformat die Antwort gegenüber dem Standard des 35-mm-Films. Man nahm dazu eine Idee aus den 1930er-Jahren wieder auf, die damals noch nicht zündete, weil die Kinobesitzer in der damaligen Wirtschaftskrise nicht das Geld dazu hatten, es zu realisieren.
Joachim Polzer: Zwei Revolutionen zur gleichen Zeit gehen nicht, im Kino schon gar nicht. Die damalige Umstellung von Stumm- auf Tonfilm war gerade unter den Bedingungen der damaligen Wirtschaftskrise schon fast "too much". Da war dann keine Kapazität mehr vorhanden und niemanden stand der "Sinn" nach noch mehr Kinorevolution. Das ist für uns heute als geschichtliche Parallele natürlich interessant: 1997 durfte ich in Karlsruhe die ersten Labormuster von digitalen Kinoprojektoren in 2K-Auflösung vorstellen. 2009 endlich, 12 Jahre später, geht es mit der Umstellung in Richtung Digitales Kino langsam auf breiterer Basis los, allerdings getrieben von einer neuen Euphorie des digitalen "3-D", die als technische Umstellung eben Digitaldaten und elektronische Projektion zur Bedingung macht. Es lässt sich jetzt gut darüber streiten, ob das nun zwei getrennte Revolutionen sind -- Digital und 3-D -- oder ob die neue 3-D-Welle nicht einfach nur neue technische Konditionen, eine neue technische Infrastruktur des Kinos, voraussetzt, die auch nach einem eventuellen Abebben von 3-D ein weiteres Eigenleben entwickeln kann -- wenn es dann Kinos im traditionellen Sinne künftig überhaupt noch geben sollte.
Ansonsten dürfen derzeit noch Wetten darauf abgeschlossen werden, ob die "3-D-Welle" wieder nur eine temporäre Angelegenheit ist, oder ob nicht doch alle Wertschöpfungsketten der bewegten Bilder auf 3-D künftig grundlegend umgestellt werden. Insofern scheint mir die damalige Innovation mit "70-mm-Breitfilm" der 1950er- und 1960er-Jahre im Rückblick eher wie eine Innovation des Luxus in Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität statt einer wirklichen Medienrevolution in Zeiten der Krise gewesen zu sein. Das ist insofern interessant, weil bislang der damalige Drang zu großen Kino-Bildern seinerseits als Krisenreaktion des Kinos gegenüber dem damals neuen Medien-Konkurrenten Fernsehen gewertet wurde. Das würde auch erklären helfen, warum die 70-mm-Innovation in den 1970er-Jahren nach gut 15 Jahren Wirkungsdauer wieder zurück genommen wurde, zugunsten des Standardfilmformats 35-mm. Vielleicht, weil eine zunächst existenzbedrohend wahrgenommene Krise nach Marktbereinigungen dann doch als mediale Koexistenz umgewertet werden konnte. Dieser Umstand würde wiederum erklären helfen, warum "Schachtelkinos" und "Kinocenter" sich damals am Markt überhaupt haben durchsetzen können: Wenn das Kino durch Fernsehen als Sozialform nicht tot zu kriegen sei, dann war auch egal in welcher betriebswirtschaftlichen Form dies geschehen kann.
Detlev Mähl: Die Investitionen der Produzenten in 70-mm-Aufnahme und -Vertrieb hatten sich damals in den meisten Fällen durchaus gelohnt, wenn auch die Projekte insgesamt einfach zu teuer wurden, um sich weiterhin finanziell amortisieren zu können. Und das lag nun wiederum nicht etwa an den Kosten des 70-mm-Filmmaterials oder möglichen Zusatzkosten für 70-mm-Spezialkameras, sondern schlicht an den zusätzlichen Kosten für filmischen Aufwand vor der Kamera. In ein größeres Bild mit einer hohen Detailauflösung muss man mehr hinein stellen, es muss inhaltlich vor der Kamera mehr "Masse" bewegt werden. Kinobilder sind dazu da, ausgefüllt zu werden. Darin lag das grundlegende Problem. Hinzu kam erschwerend, dass das Publikum eben auch ganz plötzlich und ganz heftig nach "Kammerspielen" verlangte.
Joachim Polzer: Kommen wir nochmal auf den Umbau des "Atrium" im Jahr 1974 zurück. Was wurde denn konkret technisch verändet und verbessert?
Detlev Mähl: Man hatte die alten Röhrenverstärker aus den 1950er-Jahren entsorgt und sich eine neue transistorisierte Tonanlage hingestellt. Man hatte auch neue Lautsprecher installiert, die dann allerdings nicht unbedingt besser waren als die alten Hörner. Die Zeit mit dem Riesenbass fing erst später an, mit Sensurround, der dann nach dem Umbau kam. Die Bogenlampen mit Kohlestiften wichen Xenon-Licht. Mit dem Umbau wurde auch eine neue Leinwand eingebaut, verbunden mit dem Anspruch, dass man auch bei 35-mm-Formaten ein großes Bild erzeugen möchte. Der Gedanke war, dass man das CinemaScope-Format auf die Leinwandbreite des 70-mm-Formats bringen wollte und mit einem fahrbaren Kasch dann in der Höhe entsprechend abdeckt. Umgekehrt konnte man bei sphärischen Breitwandformaten oder im Normalformat den Höhenkasch rausfahren und bekam dabei eben auch ein entsprechend sowohl in der Höhe als auch in der Breite vergrößertes Bild hin. Allerdings waren die dafür notwendigen, kurzen Brennweiten auch ein Handycap: Eine kurze Brennweite hat durch Verzeichnungen eben ihre Grenzen, zumal das Verhältnis zum Film sehr kritisch ist. Man stand über die Vertriebsfirmen in recht gutem und intensivem Kontakt zu Schneider und ISCO, die in Sachen Kinooptiken damals an Neuentwicklungen arbeiteten. Das "Atrium" war daher in Sachen Optiken bestens ausgestattet, um in den gängigen Filmformaten eine wirklich gute Projektion hinzubekommen. Das Haus war während des Umbaus im Sommer 1974 komplett geschlossen. Neueröffnung war dann im September 1974 mit "The Conversation" von F.F. Coppola im großen Saal, gleichzeitig wurde das "Bambi im Atrium" eröffnet. Bei den Magnetton-Vorverstärkern gab es anfangs Probleme, weil die Relais des neuen Filmtellers in die Magnetton-Vorverstärker hinein knackten, was bei der Stille des Weltraums von "2001" nicht besonders originell war. Mit Hilfe von Hans Hänssler fanden wir dann auch dafür noch eine Lösung. Man war allerdings generell, Mitte der 1970er-Jahre, bereits über die zeitgenössische Erfahrung des 70-mm-Films hinweg. Man hatte die Erfahrung des täglichen Spielbetriebs mit 70-mm-Kopien einfach nicht mehr. Es hatte sich, schon aus der damaligen Perspektive heraus, bereits alles schon überholt: Man war generell wieder zu 35-mm und Mono-Lichtton als Standard zurückgekehrt. Es lässt sich also sagen, dass man Mitte der 1970er-Jahre schon über diese Zeit hinweg war -- und was noch schlimmer war: Ich merkte bei meinen Recherchen zu schon damals historischen Filmverfahren, dass auch die alten Kinotechniker nicht mehr greifbar waren. Die Zeit hatte auch sie eingeholt. Es war vorbei. Bei mir machte es dann die Erfahrung im Umgang mit den Kopien und dem Spielbetrieb von entsprechenden Filmreihen. Was von dieser großen Zeit des Kinos und seiner mächtigen Kinomaschinerie übrig bleib, das waren die Idealisten. -- Idealisten, die das gern gemacht haben und mit Liebe bei der Sache und ihrer Arbeit waren. Man musste sich mit seiner Arbeit identifizieren können. Interessant war, dass nach 1989 die Vorführer aus der ehemaligen DDR technisch wesentlich versierter waren, als was im Westen noch übrig geblieben war. Einige von denen waren so gut, dass sie sich nach der Wende im Westen als Kinotechniker etablieren konnten.
Joachim Polzer: Kommen wir nochmal auf die Betreiber des "Atrium" zurück, die Colm Filmtheaterbetriebe und ihr Ensemble an Stuttgarter Kinos. Welche Kinos wurden in den 1970er-Jahren nach der Schließung des "Planie" in Stuttgart von "Colm" betrieben?
Detlev Mähl: Neben dem "Atrium" und dem "Colibri" gehörten noch das "Delphi" in der Tübinger Straße und das "Europa" in der Königstraße dazu. Und eine Zeit lang gehörte ihnen auch das "Royal" am Rotebühlplatz, dort, wo heute der C&A ist. Im "Royal" wurden gerne die Filme von United Artists gespielt; ich erinnere mich dort an "West Side Story" in Mono, "Irma la Duce" und "Viva Maria". "Planie" und "Royal" gingen schließlich weg. Das "Colibri" wurde dann später auch umgebaut. Im "Colibri" war gegen Ende der 1970er-Jahre dann die "Rocky Horror Picture Show" über Monate der absolute Hit. Das "Europa" war mit über 600 Plätzen das größte Kino der Colms; die "Bond"-Filme - zumindest jeder zweite und dann geteilt mit den Palast-Kinos -- oder sonstige Action-Ware wurde gern im "Europa" gezeigt. Dadurch dass das "Europa" ein sehr langer Schlauch als Saalform war, gab es nur eine mickrige Leinwandwirkung und die Akustik im "Europa" war zudem recht mies. Die Qualität von Bild und Ton haben halt ihre physikalischen Grenzen. Heute könnte man solche architektonischen Mankos technisch ausgleichen, aber damals war davon natürlich nicht die Rede, weil es technisch einfach nicht ging. Das "Delphi" hatte eine programmliche Sonderstellung, man spielte dort gerne auch anspruchsvolle Filme oder familientaugliche Unterhaltung und wenn ein Film im neuen "Bambi im Atrium" zu gut lief, wurde er eben ins "Delphi" gesteckt, wie etwa "Die Ehe der Maria Braun". Das "Delphi" war ein ganz alter Kinobau, einer der ältesten in Stuttgart.
Joachim Polzer: Du hast im "Atrium" die Einführung von "Sensurround" geleitet und überwacht.
Detlev Mähl: Während "Schlacht um Midway" und "Achterbahn" als 35-mm-Kopie liefen, wurde "Erdbeben" in 70-mm gezeigt. Bei "Erdbeben" waren auf den beiden Kanälen "Halblinks" und "Halbrechts" die entsprechenden Steuerspuren für Sensurround. Die Sensurround-Lautsprecher blieben dann teilweise noch im Kino, weil der Verleih froh war, dass sie dort bleiben konnten. Ich hatte die dann später als Subwoofer im regulären Spielbetrieb benutzt, hatte jedoch dann die dafür vorgesehenen und entsprechend leistungsfähigen Verstärker nicht mehr. Das heißt, ich musste diese Riesensubwoofer-Boxen dann untersteuern, was aber immer noch ausreichende Wirkung erzeugte. Ich erinnere mich etwa noch an deren Einsatz bei "Alien 2" mit dicken Bässen. Und das war dann eigentlich auch schon die Zukunft im Verhältnis zu dem, was sie in den USA schon länger hatten.
Fortsetzung folgt.
Bildnachweis: Joachim Polzer
Samstag, 17. Oktober 2009
Stuttgarter Kinogeschichten. Leben live im Kino: Detlev Mähl im Gespräch mit Joachim Polzer, Teil 3
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